Kriminologie. Tobias Singelnstein
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In der Mitte des 20. Jahrhunderts interessiert sich die nordamerikanische Kriminologie in einem vorwiegend theoretischen Diskurs für die Prozesse, welche die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität bestimmen (→ § 2 Rn 4). Der Labeling Approach rückt den Kriminalisierungsprozess und seine Akteur:innen ins Blickfeld (→ § 13 Rn 7 ff.). Seit den 1980er Jahren gewinnen, unter dem gesellschaftspolitischen Vorzeichen des Neoliberalismus, spätmoderne Theorien an Einfluss, die eine soziale Geprägtheit von Kriminalität bestreiten und sich wieder unverblümt den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens zuwenden (→ § 12).
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Neben Forschungen über das Zustandekommen „klassischer“ Kriminalität werden Konzepte zur Erfassung der Kriminalität in Wirtschaft und Oberschicht (white collar crime, → § 18 Rn 12 ff.) entwickelt und dabei die Strategien [66] analysiert, mit denen es den Träger:innen weißer Kragen gelingt, nicht nur dem strafrechtlichen Kontrollnetz zu entschlüpfen, sondern sogar zu verhindern, dass strafrechtliche Verbote gegen ihr sozialschädliches Verhalten zustande kommen. Landesweit periodisch wiederholte Opferbefragungen haben die Entwicklung einer systematischen Opferforschung (Viktimologie) ermöglicht (→ § 18 Rn 22 ff.). Die Frage, welche Maßnahmen der Kriminalprävention gleichermaßen realisierbar, kostengünstig und erfolgversprechend sind, ist ein nachhaltiges Thema der nordamerikanischen Kriminologie. Die überaus harte Sanktionierungsstrategie in den USA (→ § 20 Rn 53 ff.) ist Gegenstand kritischer Studien. In der jüngeren Vergangenheit steht die verbreitete gesellschaftliche Verunsicherung über kriminelle Ereignisse (→ § 23 Rn 21 ff.; § 24 Rn 18 ff.) sowie die Prävention besonders „brennender“ Kriminalitätsprobleme in den Bereichen der Straßengewalt, des Drogenhandels, der organisierten Kriminalität und des Terrorismus im Blickfeld.
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Angesichts all dieser Entwicklungen bildet sich der Eindruck eines komplexen Forschungsrepertoires, das in seiner Reichhaltigkeit, aber auch Disparität weltweit einzigartig ist, ein Sammelbecken sämtlicher aktueller Perspektiven der Kriminologie bildet und als Steinbruch für jegliche kriminalpolitische Argumentation dienen kann. Die Kriminologie in den USA ist weltweit prägend und richtungsweisend.
§ 5 Kriminologische Forschungsmethoden
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[66] Als Erfahrungswissenschaft liegt ein Schwerpunkt kriminologischer Forschung neben theoretischen Arbeiten auf der empirischen Forschung. Anders als normative Wissenschaften, wie etwa die Rechtswissenschaft, untersucht die Kriminologie die Lebenswirklichkeit – so unverstellt wie möglich. Dabei sollen in der Theorie entwickelte Annahmen überprüft und/oder weiterentwickelt werden, die sowohl die Entstehung von abweichendem Verhalten als auch die Praxis des Kriminalisierungsprozesses betreffen können. Solches Vorgehen nennt man „empirisch“, „erfahrungswissenschaftlich“ oder, mit einem Modewort ausgedrückt, evidence-based. Für diese Forschung greift die Kriminologie auf die Methoden verschiedener Bezugswissenschaften zurück, im Besonderen auf die der empirischen Sozialforschung. Diesen kommt die Aufgabe zu, den Forschungsprozess [67] möglichst frei von unerwünschten Einflüssen zu strukturieren und so allgemein gültige Erkenntnisse zu erlangen.86
I. Grundlagen
2 Innerhalb der Methoden der empirischen Sozialforschung besteht die Wahl zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und können methodisch gültige empirische Erkenntnisse erbringen. Allerdings sind sie für verschiedene Fragestellungen in unterschiedlichem Maße geeignet.87 Welche Methoden man wählt hängt also nicht nur von der Weltsicht der Forschenden ab (→ § 2 Rn 6 ff.), sondern auch von der jeweiligen Forschungsintention und Forschungsfrage. Quantitative Methoden messen zählbare Eigenschaften und versuchen anhand der Häufigkeit ihres Vorkommens und des Zusammentreffens mit anderen Elementen Aussagen über Kausalzusammenhänge zu treffen. So kann beispielsweise gefragt werden, ob eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit zu einer höheren Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter führen. Für die Aussagekraft solcher Untersuchungen kommt es darauf an, dass eine repräsentative Stichprobe aus der jeweiligen Gesamtheit untersucht wird.
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Qualitative Methoden der Sozialforschung verfolgen als sinnverstehende, interpretative Herangehensweise eine Perspektive des Verstehens anstelle des Erklärens (→ § 2 Rn 11 f.).88 Dabei bemühen sie sich um ein tieferes Verständnis der sozialen Zusammenhänge im Sinne eines Nachvollziehens.89 So können z. B. Täter:innen gefragt werden, wie und warum es zu bestimmten Handlungen gekommen ist, welchen Sinn sie diesen beigemessen haben und wie sie ihr Verhalten heute betrachten. Qualitative Methoden wurden aus der Erkenntnis entwickelt, dass quantitative Verfahren sich im Bemühen um Objektivität den Zugang zu einem intersubjektiv gebildeten sozialen Forschungsgegenstand verstellen. Zugleich sind quantitative Verfahren angesichts ihres geplanten Forschungsablaufs der Gefahr ausgesetzt, weniger offensichtliche Umstände und Zusammenhänge, die vom Forschungsdesign nicht erfasst worden sind, im Laufe des Forschungsprozesses zu übersehen und so zu einer selektiven Wahrnehmung [68] zu gelangen.90 Demgegenüber handelt es sich bei qualitativen Methoden oft um Verfahren, die bemüht sind, möglichst frühzeitig und unvoreingenommen mit dem praktischen Forschungsprozess zu beginnen, um aus dem empirischen Material heraus das konkrete Vorgehen zu entwickeln. Dies kann die Gefahr bergen, das eigene Vorverständnis unhinterfragt als allgemein gültig zu unterstellen.
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Unabhängig von der methodischen Herangehensweise stellt sich weiterhin die Frage, ob die für das Forschungsvorhaben notwendigen Daten selbst erhoben werden sollen (Primärdaten) oder ob bereits für einen anderen Zweck erhobene Daten ausgewertet werden können (Sekundärdaten).91 Auswertungen von Sekundärdaten haben den Vorteil, dass die meist ressourcenintensive eigene Datenerhebung entfällt. Zugleich ergeben sich auch Nachteile, da Sekundärdaten ein durch das spezifische Interesse bei der Datenerhebung und die gewählte Erhebungstechnik verzerrtes Bild der Wirklichkeit liefern.
II. Einzelne Methoden der Datenerhebung
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Wichtige Quellen im Bereich der Kriminologie sind zum einen die amtlichen Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik, Staatsanwaltschafts-, Strafverfolgungs- und Strafvollzugsstatistik) sowie die durch Strafverfolgungsbehörden angelegten Akten. Insbesondere amtliche Quellen, wie aktenmäßige Erfassungen und Statistiken, betreffen nur das amtlich bekannt gewordene Hellfeld der Kriminalität; zudem dürfen sie nicht als Abbild der Wirklichkeit missverstanden werden (→ § 15 Rn 6).
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Aus der empirischen Sozialforschung sind für kriminologische Forschungsvorhaben sodann vor