Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Der Beweis, dass kriminelles Verhalten durch die Anlage disponiert wird, lässt sich mit Zwillingsstudien nicht führen. Eineiige Zwillinge verhalten sich womöglich häufiger übereinstimmend, weil sie mehr aneinanderhängen, mehr Zeit miteinander verbringen, öfter Freund:innen und Hobbys teilen als andere Geschwister. Sie werden vielleicht eher gemeinsam straffällig, weil sie häufiger sonstige gemeinsame Lebensgewohnheiten aufweisen. Vielleicht werden sie auch nur häufiger gemeinsam erwischt, weil sie als „doppelte Lottchen“ eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder bei Ermittlungen, die sich gegen einen eineiigen Zwilling richten, der Verdacht einer Beteiligung des Zwillings näherliegt als bei sonstigen Geschwistern. Dafür spricht eine weitere Studie, die Straftaten nicht nach amtlichen Registern, sondern nach anonymem Selbstberichten erhob, aus denen sich keine erhöhte kriminelle Verhaltensübereinstimmung bei eineiigen Zwillingen ergab.19
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[91] Bei der Adoptionsforschung werden Anlage- und Umwelteinfluss durch Vergleich der Kriminalitätsbelastung von Adoptivkindern mit derjenigen ihrer leiblichen Eltern einerseits und ihrer Adoptiveltern andererseits erhoben.20 Die Verhaltenskonkordanz bei biologischer Verwandtschaft wird als Indiz für genetische Disposition zur Kriminalität, die Konkordanz in der Adoptivbeziehung als Hinweis auf sozialen Einfluss gewertet.21
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Auch Adoptionsstudien fallen nicht eindeutig zugunsten vererbter Einflüsse aus. So erbrachte eine breitere und verfeinerte Replikationsstudie deutlich schwächere Indizien für biologische Einflüsse als die ursprüngliche Studie.22 In einer Metaanalyse wurde für den Einfluss von Erbfaktoren lediglich eine mittlere Effektstärke von 0.11 nachgewiesen.23 Demnach gilt auch bei Adoptionsstudien: Je aktueller, je statistisch aussagekräftiger und je methodisch ausgefeilter die Untersuchung, desto stärker nivellieren sich angenommene vererbte Effekte.
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Wo die Ergebnisse der Adoptionsforschung genetische Effekte zu belegen scheinen, sind die Befunde auch anders verstehbar. Eltern, die ihre Kinder zur Adoption weggeben, sind häufig psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt, die mit Kriminalität einhergehen. Bei den Kindern kann das Adoptionsverhältnis eine erhöhte kriminelle Gefährdung bewirken. Die oft als Trauma erlebte Adoption erschwert die soziale Eingliederung. Adoptionen geht nicht selten ein für die kindliche Entwicklung schädlicher Heimaufenthalt voraus.
II. Genetische Annahmen
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In den 1960er Jahren haben Chromosomenstudien Aufmerksamkeit erregt. Spektakuläre Kriminalfälle, deren Ursache unerfindlich schien, fanden in der Chromosomenanomalie überführter Täter eine scheinbar befriedigende Erklärung. Die irrtümliche Meldung etwa, dass der achtfache Frauenmörder Richard Speck aus Chicago ein überzähliges Y-Chromosom (XYY-Syndrom) aufgewiesen habe, fand breite Resonanz in der Öffentlichkeit und wurde als Entdeckung des „Mörderchromosoms“ gefeiert.
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[92] Nachfolgende Untersuchungen lassen diese Annahmen zweifelhaft erscheinen.24 So ist die Anzahl der XYY-Männer unter Strafgefangenen nicht signifikant höher als in der Gesamtbevölkerung.25 Überhaupt scheint ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung zu stehen.26 Amerikanische Studien deuten im Gegenteil trotz gewisser psychischer Auffälligkeiten auf eine verminderte Aggressionsneigung von XYY-Männern hin.27 Eine auslesefreie Untersuchung sämtlicher (31.436) in Kopenhagen in den Jahren 1944 bis 1947 geborener Männer untermauert dies.28 Auch die Überzähligkeit von X-Chromosomen bei Männern (sog. Klinefelter-Syndrom) dürfte entgegen früherer Mutmaßungen in keinem Zusammenhang zur Kriminalität stehen. Die Feststellung erhöhter Häufigkeit dieses Syndroms unter Straffälligen erreicht keine signifikanten Werte; zudem bleibt die Kriminalität von Klinefelter-Männern typischerweise im Lebenslängsschnitt episodenhaft.29
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In der neuseeländischen Stadt Dunedin wurden alle 1972 und 1973 in demselben Krankenhaus geborenen Personen (N = 1.037) während 30 Jahren von einem Team Forschender um das Ehepaar Terrie Moffitt und Avshalom Caspi im Hinblick auf während der Kindheit erlittene Misshandlungen und späterem gewalttätigem Verhalten beobachtet (→ § 10 Rn 38 f..). Dabei ergab sich, dass zwar Opfer von Misshandlungen im Kindesalter später zu etwa 50 % eher zu gewalttätigem Verhalten neigen als nicht misshandelte Kinder, diese Beziehung jedoch für die meisten misshandelten Kinder nicht zutrifft. Die Forschenden vermuten einen Einfluss eines nur bei Männern vorhandenen Gens, das für die Bildung des Enzyms Monoaminoxidase A (MAOA) verantwortlich ist. Dieses Gen sorgt dafür, dass Aggressivität fördernde Neurotransmitter im Gehirn wie Norepinephrin (NE), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) deaktiviert werden. Als Knaben misshandelte Männer, bei denen diese hemmende Funktion unzureichend ist (low-activity-Allel), benahmen sich später zu mehr als 80 % antisozial und zu mehr als 30 % gewalttätig. Angenommen wird, dass die genetischen Dispositionen erst durch Misshandlung in der Kindheit „angeschaltet“ würden.30 In den Forschungsberichten werden allerdings die Art der erlittenen Misshandlungen und der verübten Gewalt nicht spezifiziert. Ebenso bleiben Einflüsse des Lebensabschnittes zwischen kindlicher Misshandlung und späterer Gewaltausübung [93] ausgeblendet. So wird aufgrund der festgestellten statistischen Beziehung der Eindruck eines fast zwingenden Zusammenhanges von erlittener und verübter Gewalt bei entsprechender genetischer Ausstattung erzeugt. Die intergenerationale Weitergabe erlebter Gewalt kann indes auch soziologisch über die Theorie des sozialen Lernens, Bindungstheorien und den Aspekt der niedrigen Selbstkontrolle der allgemeinen Kriminalitätstheorie erklärt werden.31
III. Hirnforschung
Lektüreempfehlung: Hallmann, Amina (2017): Wie ernst muss die Kriminologie die Neurowissenschaften nehmen? – Zum möglichen Aufkommen einer neuen Biokriminologie. NK 29, 3-14; Heinemann, Torsten (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risikoanalysen. KrimJ 46, 184-199; Kunz, Karl-Ludwig (2010a): Lebenswissenschaft und Biorenaissance in der Kriminologie. In: Böllinger, Lorenz. u. a. (Hrsg.): Gefährliche Menschenbilder. Baden-Baden, 124-137; Strasser, Peter (2013): Brains and Would-be Brains. KrimJ 45, 58-68.
Nützliche Webseiten: http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/852357&_z=798884.
15 Die neuronale Hirnforschung gilt als eines der zukunftsträchtigsten und spektakulärsten Forschungsgebiete. Dabei zeigt sich, dass das Gehirn ein höchst komplexes biologisches System ist, in dem bestimmte Hirnregionen – besonders solche des limbischen Systems – arbeitsteilig spezifische Aufgaben der Verhaltenssteuerung wahrnehmen. Das untere, über den Augen liegende Stirnhirn, der präfrontale Cortex, funktioniert als Kontrollinstanz, welche die in limbischen Hirnbereichen entstehenden Gefühle und Impulse im Zaum hält. Beobachtungen an erwachsenen Patient:innen mit frontalen Hirnverletzungen durch Schädel-Hirn-Traumata belegen, dass sich diese Verletzungen häufig in erhöhter Reizbarkeit niederschlagen. Nach retrospektiven Untersuchungen an Gewalttäter:innen soll der präfrontale Cortex bei aggressiven Erwachsenen deutliche Auffälligkeiten aufweisen, welche entweder durch Verletzungen hervorgerufen oder angeboren und genetisch bedingt seien. Gewalttätiges Verhalten hänge ferner mit männlichem Geschlecht, Alter und persönlichen Gewalterfahrungen in der Kindheit zusammen. Zusätzlich wird eine Abhängigkeit der Gewalt von einem hohen Testosteron- und niedrigen Serotoninspiegel angenommen. Hirnanomalien sollen vor allem dann zu Gewalt führen, wenn sie von Kindheit an bestehen und psychosoziale Risikofaktoren wie massive Störungen der frühen [94] Mutter-Kind-Beziehung, inkonsequente Erziehung, Misshandlung und Missbrauch im Kindesalter hinzukommen.32
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Über diese Fälle beobachtbarer Auffälligkeiten