Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Diese zurückhaltend-skeptische Einschätzung macht die Beantwortung der kriminalätiologischen Frage nach den Bestimmungsgründen für das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens schwieriger denn je. Die meisten von uns werden – mehr oder weniger intuitiv – eine bestimmte Ursachenerklärung anderen vorziehen. Der Glaube an die Abhängigkeit strafbaren Verhaltens von Einflüssen der biologischen Anlage, des sozialen Umfeldes oder der Gesellschaftsstruktur verleitet zur gleichsam statischen Annahme eines strengen Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, die der Komplexität und Dynamik von Kriminalitätsphänomenen nicht gerecht wird. Eine solche statische Annahme ist verlockend, weil sie eine erschöpfende Erklärung von Kriminalitätsphänomenen behauptet. Der Hinweis, dass eine bestimmte Anlage, ein bestimmtes soziales Umfeld oder eine bestimmte Gesellschaftsstruktur keineswegs zwingend zu kriminellem Verhalten führt, irritiert die um eingängige und endgültige Antworten bemühten Gemüter. Machen wir uns frei von solchen allzu simplen Vorstellungen und seien wir bereit, anzuerkennen, dass die Kriminalitätsentstehung komplexer ist, als die um vorschnelle Problemlösungen bemühten eindimensionalen Alltagsvorstellungen.
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Da jede Theorie nur bestimmte, ihrem Wahrnehmungshorizont zugängliche Relevanzstrukturen des Kriminalitätsphänomens berücksichtigt, liegt es nahe, sich um eine Kombination verschiedener Theorien zu bemühen.9 Doch ist die Erwartung, dass die einzelnen Theorien in gegenseitiger fruchtbarer Ergänzung ein aussagekräftiges Gesamtbild der Kriminalität und ihrer Bezüge formen würden, wohl nicht einzulösen. Die Theorien liefern eben nicht Teile eines Puzzles, die einfach zusammengelegt werden könnten, sondern gleichsam Stücke mit runden und eckigen Kanten, die nicht ohne Lücken zusammenpassen, und deren unterschiedliche Höhen sich nicht auf die Zweidimensionalität des Puzzlebildes reduzieren lassen.
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Der erste Versuch einer Synthese verschiedener theoretischer Zugangswege zur Kriminalität erfolgte durch den Vereinigungsgedanken von Liszts. Kennzeichnend dafür war das Bemühen, den Anlage-Umwelt-Streit in einem pragmatischen Sowohl-als-auch aufzulösen (→ § 4 Rn 24 f..), das keiner bestimmten [85] theoretischen Vorstellung verpflichtet war, sondern sich allein von dem praktischen Anliegen leiten ließ, aus der Erkenntnis der Ursachen des Verbrechens Ratschläge für seine Verhütung und die Besserung von Kriminellen zu entwickeln.
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Unabhängig von jenem historischen Beispiel sind Zweifel anzumelden, ob es überhaupt möglich ist, verschiedene theoretische Zugangswege zur Kriminalität ohne die Entwicklung eines diese Theorien überspannenden gemeinsamen theoretischen Dachs („Metatheorie“) zu bündeln. Die Annahme, es gebe viele verschiedenartige Kriminalitätsursachen, lässt nämlich offen, worin diese konkret bestehen und in welchem Ausmaß sie jeweils für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich sind. Um den Vereinigungsgedanken in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne formulieren zu können, müsste man die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Entstehung von Kriminalität kennen und wissen, welchen Anteil sie jeweils besitzen. Sogar der als solcher theoretisch anspruchslose Vereinigungsgedanke ist auf theoriegeleitete Annahmen angewiesen, weil eine zureichende Kriminalitätserklärung nicht ohne die zumindest implizite und heuristische Festlegung auf bestimmte theoretische Prämissen auskommt. Auch das induktive Sammeln von vermeintlich mit Kriminalität zusammenhängenden Fakten beruht auf theoretischen Vorentscheidungen, durch welche die Faktenauswahl eingegrenzt und strukturiert wird. Der Verzicht auf eine bewusste theoretische Orientierung bewirkt keine Theorieabstinenz, sondern bloß die ungeprüfte Übernahme spekulativer Alltagstheorien. Diese Probleme werden uns bei der heutigen Version des Vereinigungsgedankens, dem multifaktoriellen Ansatz (→ § 10 Rn 24 ff.), noch beschäftigen.
IV. Einteilung kriminologischer Theorien
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Obgleich Kriminalitätstheorien zumindest derzeit nicht zu einer in sich konsistenten Globaltheorie geordnet werden können, bestehen doch zwischen den einzelnen Theorien Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Der zunächst naheliegende Eindruck eines beziehungslosen Nebeneinanders von unterschiedlichen Beobachtungsfeldern und -perspektiven täuscht. Dies wird schon dadurch deutlich, dass die verschiedenen Theorien in Konkurrenz zueinanderstehen. Obwohl die theoretischen Deutungsmuster je einzeln eine konsistente Kriminalitätserklärung abzugeben beanspruchen, sind sie doch immer nur als Alternative zu gleichzeitig vertretenen anderen Deutungsmustern zu verstehen. Wie überzeugt man von einer bestimmten Kriminalitätserklärung auch sein mag – [86] das Bewusstsein, dass auch andere Deutungsmöglichkeiten wissenschaftlich vertretbar sind, bleibt allgegenwärtig.
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Die Konkurrenzsituation ist erklärungsbedürftig, scheint doch die Befassung mit dem einen thematischen Aspekt oder Gegenstandsbezug so legitim wie die Behandlung eines anderen. Weshalb zwischen den sich mit kriminellen Individuen befassenden Mikrotheorien und den soziale Strukturen thematisierenden Makrotheorien Brücken bestehen sollen, ist zunächst ebenso wenig einsichtig wie, weshalb den Mikrotheorien vorzuwerfen sei, dass sie die Makroperspektive vernachlässigen und umgekehrt. Indes ergeben sich Zusammenhänge daraus, dass sich einzelne Theorien in ihren Erklärungsansprüchen überschneiden, wobei die empirische Bestätigung der einen Erklärungshypothese die der anderen in Zweifel zieht. So wird die biologische Annahme der kriminellen Veranlagung bestimmter Individuen durch den Nachweis von Einflüssen des sozialen Umfeldes oder der gesellschaftlichen Struktur auf das Kriminalitätsvorkommen irritiert: denn wenn kriminelles Verhalten mit der individuellen Veranlagung zusammenhinge, müsste dieser Zusammenhang in unterschiedlichen sozialen Umfeldern und Strukturen stabil bleiben.
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Wir wollen das Theorienspektrum in seiner gesamten thematischen Bandbreite erörtern. Freilich ist angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten keine vollständige, sondern eine typisierende Darstellung angezeigt.10 Die Darstellung folgt einer systematischen Einteilung und nicht stets chronologisch der historischen Entstehung der erörterten Theorien.
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Drei Typen kriminologischer Theorien können unterschieden werden: Theorien, welche individuelle Merkmale benennen, die die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens erhöhen. Ferner Theorien, welche Strukturmerkmale sozialer Einheiten bezeichnen, die die Häufigkeit und Verteilung des Kriminalitätsvorkommens beeinflussen. Schließlich Theorien, welche sich mit der Kontrolle der Kriminalität befassen.11 Individuenbezogene Theorien verwenden biologische, psychologische und psychiatrische Erklärungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Verübung kriminellen Verhaltens bei manchen Menschen größer als bei anderen ist, unabhängig von der sozialen Situation, in der sich diese befinden. Auf soziale Einheiten bezogene Theorien verwenden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen. Sie nehmen [87] an, dass gewisse ungünstige Beschaffenheiten des sozialen Umfelds mit einem erhöhten Kriminalitätsvorkommen und einer bestimmten Kriminalitätsverteilung zusammenhängen, unabhängig von den Merkmalen der Individuen, die sich in diesem Umfeld befinden. Neben diesen beiden Gruppen von Kriminalitätstheorien, die also die Erklärung kriminellen Verhaltens beabsichtigen, finden sich Kriminalisierungstheorien, die auf die Kriminalitätskontrolle bezogen sind und die förmlichen Reaktionen auf Kriminalität untersuchen.
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In den folgenden Kapiteln werden zunächst individuenbezogene Theorien erläutert, welche um die Aufklärung der individuellen Ursachen des Straffälligwerdens