Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung. Udo Bahntje

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Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung - Udo Bahntje

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Aspekte4 etwa im Rahmen einer neuen Abwägungsformel zur Diskussion gestellt werden. Eine solche Formel wäre auch kaum vorstellbar, denn eine Abwägung muss sich in jenen Bereichen, in denen diese Aspekte entscheidungserheblich werden (etwa bei den §§ 4, 8, 24 Abs. 3 GWB) stets streng individuell auf den einzelnen (Ausnahme-) Fall beziehen und steht daher jeder formelmäßigen und schablonenhaften Beurteilung fern.

      Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung (im Folgenden auch abgekürzt „das Prinzip“ genannt) ist im Vergleich zu einer solchen allgemeinen und umfangreichen, auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Vorteilsabwägung sehr viel enger und funktional präziser. Es soll besagen, dass in den Fällen, in denen die Nachteile von irgendwelchen (an sich verbotenen) Wettbewerbsbeschränkungen ausnahmsweise mit — durch eben diese Wettbewerbsbeschränkungen im jeweiligen Fall hervorgerufenen — unmittelbaren Wettbewerbsvorteilen konkurrieren, dieser Konflikt infolge des Prinzips des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung im Zweifel zugunsten der Wettbewerbsermöglichung gelöst werden muss, auch wenn dabei unter Umständen ganz erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen konkret hingenommen oder zumindest in Kauf genommen werden müssen. „Vorrang“ bedeutet also: vor der (ausnahmsweise hinzunehmenden) Wettbewerbsbeschränkung.

      Dabei soll die soeben genannte Zweifelsregelung besagen, dass sich die Vor- und Nachteile (Wettbewerbsermöglichung und Wettbewerbsbeschränkung) in quantitativer, qualitativer oder kombiniert quantitativ-qualitativer Hinsicht etwa gleich groß gegenüberstehen müssen, denn bei kleineren Wettbewerbsvorteilen kann es hinsichtlich ihrer Irrelevanz gegenüber der überwiegenden Wettbewerbsbeschränkung insoweit keinen Zweifel geben. Es kommt bekanntlich häufig vor, dass die angegriffene Partei eines Kartellverfahrens versucht, sich durch Hinweis auf kleinere (und zudem oft noch zweifelhafte) wettbewerbsrelevante Vorteile des verbotswidrigen Verhaltens aus der Affäre zu ziehen. Derartige marginale Vorteile sind, selbst wenn sie zweifelsfrei wären, vom Prinzip zumindest nicht regelungserheblich erfasst.

      Die Anwendung des Prinzips bedeutet zum einen, wie in entsprechenden Kollisionsfällen im Zweifel grundsätzlich zu verfahren ist (Vorrang der Wettbewerbsermöglichung durch Hinnahme der Wettbewerbsbeschränkung), und sie bedeutet zum anderen — und hier liegt der Bedeutungsschwerpunkt — warum in diesen Fällen so verfahren werden muss (Begründungsqualität des Prinzips per se). Ersteres ist bekanntlich nicht selbstverständlich, denn eine verbotene Wettbewerbsbeschränkung ist grundsätzlich nach der einschlägigen Gesetzesnorm zu verfolgen und von einer „Aufrechnung“ des Nachteils der Wettbewerbsbeschränkung mit eventuellen Vorteilen derselben sagt das Gesetz nichts. Wenn also das erstere (Vorrang der Wettbewerbsermöglichung) mit dem letzteren begründet wird, hängt die Erklärung insgesamt von der Existenz des Prinzips ab, das im Folgenden nachgewiesen werden soll5.

      II. Die Vorgehensweise

      1.) Der Weg, der zur Begründung des als Hypothese vorangestellten Prinzips eingeschlagen werden soll, ist wohl mit am überzeugendsten und konsequentesten von Canaris bei der Präzisierung des Vertrauensprinzips und einer sich daraus ableitenden Vertrauenshaftung abstrakt dargelegt6 und mit Erfolg konkret beschritten worden. Es sei dahingestellt, inwieweit eine solche, von ihm so vorbildlich durchgeführte induktive Vorgehensweise aus systematisch-logischen Gründen vielleicht sogar zwingend geboten ist7; jedenfalls soll dieser zumindest am praktikabelsten erscheinende Weg auch hier eingeschlagen werden. Das bedeutet im wesentlichen eine zielorientierte Analyse bestimmter Normen oder Fallkonstellationen, in denen das behauptete Prinzip immanent enthalten sein, und daher auf induktivem Wege aus ihnen extrahiert werden könnte8. Letzteres beinhaltet weiter die Möglichkeit, dass sich bei einer Fallgruppe herausstellt, dass das Prinzip aus bestimmten Gründen jener Konstellation im Ergebnis nicht zugrunde liegt, wodurch sich Abgrenzungskriterien ergeben. Schließlich muss bei dieser Untersuchung hier, im Bereich einer wertungsabhängigen Geisteswissenschaft, zuweilen die Evidenz eines Ergebnisses eine gewisse Argumentationsrolle übernehmen, wobei auch die Tatsache, dass dies eine legitime und notwendige Rolle ist, im folgenden per se noch näher begründet werden soll (B.II.).

      2.) Klarzustellen ist weiter, dass es in dieser Untersuchung ausschließlich um die Darstellung und den Nachweis eines konkreten, neuen Prinzips geht und — so verlockend dies auch erscheint — nicht um eine allgemeine Diskussion neuer system- und prinzipientheoretischer Erkenntnisse oder gar um eine entsprechende Analyse. Ein solcher Exkurs würde das hier vorliegende Thema zum einen sprengen und zum anderen den Schwerpunkt zu sehr in einen allgemein-theoretischen Bereich verlagern, womit dem hier verfolgten Anliegen wohl eher geschadet würde. Daher soll insbesondere auf die Erkenntnisse einer neueren Prinzipientheorie von Alexy9, die dieser in der Auseinandersetzung mit Dworkin10 und später unter Weiterentwicklung dieser Ergebnisse am Bezugspunkt einer Grundrechtstheorie11 erarbeitet hat, nur (nachdrücklich) hingewiesen werden. Doch soll das nicht daran hindern, auf Punkte, bei denen eine offensichtliche Übereinstimmung oder Abweichung zu den Ergebnissen Alexys erkennbar wird, auch hier (soweit relevant) aufmerksam zu machen. Wo ein solcher Hinweis fehlt, kann grundsätzlich von einer Übereinstimmung der theoretischen Implikationen auch mit den Thesen Alexys ausgegangen werden12.

      3.) Das weitere Vorgehen gliedert sich demnach in folgende Abschnitte:

      Zunächst soll mit Hilfe der systematischen Methode, die (ebenso wie bei der Darstellung des Vertrauensprinzips bei Canaris13) zur Ergänzung der induktiven Methode hinzugezogen wird, eine abstrakte Berechtigung des behaupteten Prinzips im Sinne einer systematischen Standortbestimmung dargelegt werden (B.). Sodann soll eine (nicht abschließende) Reihe positivrechtlicher Anknüpfungspunkte beschrieben und untersucht werden, aus denen auf induktivem Wege die „innere Notwendigkeit“ des Prinzips und seiner Abgrenzungskriterien extrahiert werden soll (C.). Abschließend sollen dann aus den gewonnenen Ergebnissen Folgerungen gezogen werden und das Prinzip an offenen oder (m.E.) nur unbefriedigend gelösten Problemen gemessen werden, wobei letztendlich im Ansatz auch eine deduktive Argumentation (gewissermaßen zur Probe aufs Exempel) zur Anwendung kommt (D.II.2.a).

      Zweierlei ist dazu allgemein noch zu bemerken. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die hier zum Zweck eines induktiven Nachweises angeführten Normen und Konstellationen, die die Existenz des Prinzips evident vor Augen führen und dieses zu beweisen imstande sind, stellvertretend auch für entsprechende Regelungen und Konstellationen in ausländischen Gesetzen stehen. Denn das Prinzip gilt naturgemäß nicht nur für den Geltungsbereich des GWB, sondern für jede freie Markt- bzw. Wettbewerbswirtschaft. Zum anderen ist aber auch zu sagen, dass hier ein neuer Gedanke zur Diskussion gestellt wird, dessen Umrisse und Konsequenzen noch nicht bis ins letzte ausgefeilt sind. Daher bitte ich darum, verbleibenden Unstimmigkeiten oder Unvollständigkeiten (im Blick auf das Wesentliche) mit Nachsicht zu begegnen. Insbesondere können sowohl die Fallgruppen oder Normbeispiele als „induktives Material“ (C.) als auch die Folgerungen und Konsequenzen (C. und D.) noch nicht abschließend oder erschöpfend dargestellt werden, was aber wohl nicht nur den subjektiven, sondern auch den (fehlenden) objektiven Möglichkeiten entspricht14.

      B.) Systematische Berechtigung und systematischer Standort des Prinzips

      I. System und Prinzip

      Canaris, an dessen methodisches Konzept im Folgenden angeknüpft werden soll, definiert ein System als eine „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien“15. Letztere stellen sich also als Bausteine eines Systems dar, und zwar als Bausteine von unterschiedlicher Größe und Bedeutung. Denn ebenso, wie es etwa in der Molekularanordnung eines Kristalls (zumeist) größere und kleinere, in unterschiedlichen Frequenzen schwingende Bausteine gibt, müssen auch in der allgemeinen Rechtssystematik zunächst einmal Prinzipien unterschiedlicher Wesensart (insbesondere Rechtsprinzipien und rechtsethische Prinzipien16), sodann (relativ) weitreichende und weniger weitreichende Prinzipien17,

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