Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung. Udo Bahntje
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In der Tat kann es sich bei jener ersten Gruppe von Ausnahmen, die ohne wissenschaftlich exakt definierbare Sachzwänge lediglich vom Gesetzgeber aus unterschiedlichen politischen und Interessenerwägungen heraus als nützlich empfunden und so gewollt sind („gewillkürte“ Ausnahmen) nicht um wesensimmanente Prinzipienausnahmen handeln. Sie sind zuweilen gar von sachfremden Zufälligkeiten abhängig41 und erscheinen grundsätzlich jederzeit durch die berühmten drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers korrigierbar und reversibel42. Aus der Existenz und der Art (z.B. speziell die Höhe des Umsatzes als Aufgreifkriterium, § 23 Abs. 1 S. 1 GWB) dieser zahlreichen „gewillkürten“ Ausnahmen folgt daher, dass der Gesetzgeber aus unterschiedlichen Gründen keineswegs sämtliche vorstellbaren Wettbewerbsbeschränkungen unterbinden wollte43 und will (z.B. arg e § 24 Abs. 8 GWB) und daher von dem Grundsatz einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen — auch im Rahmen seiner Möglichkeiten — selbst nicht ausgeht. Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen erscheint daher zu weit gefasst. Doch soll damit ein hier möglicherweise zugrundeliegendes Prinzip nicht generell bestritten werden. Es müsste wohl nur einschränkender formuliert werden und könnte etwa, um dem nicht nur immanent, sondern auch willensabhängig begründeten Regel-Ausnahmeverhältnis Rechnung zu tragen, als „Prinzip einer möglichst weitgehenden Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet werden. Denn es kann sich hier aus mehreren Gründen allenfalls um eine Grenzwertbetrachtung handeln.
b) Zum zweiten wird an dem von Steindorff formulierten Prinzip das prinzipienimmanente Merkmal der Evidenz44, d.h. die Evidenz der Existenz und inneren Richtigkeit des behaupteten Prinzips, sehr deutlich. Denn dass ein „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ schon vom Namen und seiner unmittelbaren Zielsetzung her von dem Prinzip einer (möglichst) weitgehenden Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen ausgehen wird, erscheint schon auf den ersten Blick evident zutreffend. Eine solche, hier besonders ausgeprägte Evidenz bedeutet jedoch keine triviale Selbstverständlichkeit, sondern ergibt sich, wie anschließend wegen der allgemeinen Bedeutung für den hier zu führenden Nachweis gesondert ausgeführt werden soll, als notwendiges Wesensmerkmal eines Prinzips aus dessen „Natur der Sache“45
III. Prinzipiengeltung und Evidenz
Larenz hat die Berufung auf die „Evidenz“ einer Behauptung als „stets suspekt“ bezeichnet46. Dieser Ansatzpunkt drängt in die Defensive, und so könnte man vielleicht meinen, dass auch hier, im Bereich der Prinzipien, die Bezeichnung der Existenz oder der Geltung eines behaupteten Prinzips als „evident“ im Grunde eine Verlegenheitslösung darstellen könnte, mit der ein bisher unbekanntes Prinzip gewissermaßen nur glaubhaft gemacht, nicht aber mit letzter Sicherheit nachgewiesen wird, so dass also die genaue Beweisführung trotz „evidenter Richtigkeit“ des Prinzips im Einzelfall noch geschuldet sein würde. Das ist aus den folgenden Gründen nicht der Fall.
Die Existenz eines Prinzips einschließlich seiner Geltung im bestimmten Rahmen beruht u.a. auf einem wesensimmanenten Unschärfenbereich, der sich aus mindestens den folgenden drei Gründen ergibt:
1.) Zum ersten ist nochmals auf die von Canaris47 abgeleitete prinzipienimmanente (mögliche) Widersprüchlichkeit der Prinzipien untereinander und (zusätzlich) ihrer nicht abschließend zu erfassenden Ausnahmebereiche, die sich jederzeit neu verändern können, hinzuweisen. Bereits daraus folgt, dass eine exakte Geltungsformel für ein Prinzip der Rechtswissenschaft (wie auch aller anderen Geisteswissenschaften48), nicht möglich ist49. Denn die (stets neu und nur möglicherweise entstehenden) Ausnahmen und Widersprüche der Prinzipien untereinander können lediglich beobachtet und wesensmäßig erfasst, nicht aber formelhaft definiert oder vorhergesagt werden. Dieser Umstand bedingt die erste wesensimmanente Unschärfe im Geltungsbereich eines Prinzips.
2.) Zum zweiten folgt dieser Unschärfebereich aus einer Wertungskomponente, die man entweder direkt aus dem Wesen eines Prinzips oder auch aus dem des zugrundeliegenden Systems verdeutlichen und begründen kann. Der zweite Weg soll hier eingeschlagen werden.
Fikentscher trifft über den Begriff eines Systems u.a. folgende Aussagen: „Ein System ist eine Anordnung von Begriffen in mehr als einer logischen Beziehung. In den Wertungswissenschaften ist mindestens eine dieser logischen Beziehungen eine wertende.“50 Da, wie bereits ausgeführt, die Geltung eines Prinzips nicht abstrakt und isoliert im Raume steht, sondern, wie insbesondere Wilburg deutlich gemacht hat, in Wechselwirkung zu anderen Prinzipien des Systems steht51 und daher die von Fikentscher genannten Beziehungen auch eine unmittelbar konstitutive Geltungskomponente für die damit jeweils beeinflussten Prinzipien beinhalten, wirkt sich dieser Wertungsbestandteil (mindestens) einer Beziehung auch für die Gültigkeit der jeweils betroffenen anderen Prinzipien konstitutiv aus. Der begriffsimmanente Unschärfenbereich der „wertenden Beziehung“ im System erfasst also das damit beeinflusste Prinzip selbst auch.
3.) Diese, über das notwendige Merkmal einer Wertung einfließende, gewissermaßen per se-Unschärfe des Prinzipienbegriffs wird drittens verstärkt durch eine weitere, von Fikentscher zu Recht laufend hervorgehobene, nicht formelmäßig erfassbare variable Dimension: die Abhängigkeit von der Zeit, oder genauer: „die Beobachtung, dass sich Wertungen mit dem Ablauf der Zeit ändern können.“52
Durch diese weitere Abhängigkeit, die Fikentscher zu Recht nicht als definierte Funktion, sondern lediglich als bloße empirische Beobachtung53 mitteilt, steigert sich die bereits per se wertungsbedingt vorliegende (d.h. die im Augenblick als „Momentaufnahme“ vorliegende) Unschärfe des Geltungsinhalts der Prinzipien und ihrer Systembeziehungen erneut. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass selbst dann, wenn ein rechtswissenschaftliches Prinzip bis zu diesem Punkt noch mit naturwissenschaftlicher Präzision definiert werden könnte, diese Definition nur für eine „logische Sekunde“ ihre Gültigkeit behalten könnte. Danach würde sie diese Gültigkeit durch den — nicht kontinuierlichen und in Ausmaß und Art und Weise unvorhersehbaren — Einfluss der Zeit wieder verlieren.
4.) Dies ist die Begründung, aus der sich m.E. zwingend ergibt, dass die Beschreibung und Aussage eines konkret behaupteten Prinzips ohne das Merkmal einer „evidenten“ Geltung nicht möglich ist54. Denn auch das Merkmal der Evidenz enthält ja eine Wertung, die Wertung nämlich, dass sich ein „Ermessensspielraum“ zugunsten einer bestimmten Aussage, d.h. hier also die Existenz- oder Geltungsaussage über ein behauptetes Prinzip, auf nahezu Null reduziert. Und diese, in der Evidenzaussage enthaltene Wertungskomponente ist in ihrer noch verbleibenden und insoweit eben nicht restlos zu beseitigenden Unschärfe das Korrelat zu dem wie vorstehend dreifach begründeten Unschärfebereich des Prinzipienbegriffs selbst.
Zur Verdeutlichung und zum Vergleich mit dieser Situation sei auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) hingewiesen55. Dort heißt es (jeweils im Zusammenhang mit einer entsprechend angegriffenen gesetzlichen Regelung) etwa: „... eine gesetzliche Regelung kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur als willkürlich verworfen werden, wenn ihre Unsachlichkeit evident ist.“56, oder: „... die Unsachlichkeit einer getroffenen Regelung muss evident sein, wenn Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein soll ...“57. Auch dort, wo es immerhin um die Gültigkeit einer konkreten Norm