Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung. Udo Bahntje
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung - Udo Bahntje страница 4
Dabei folgt bereits aus der Möglichkeit eines sich auch gegenseitig beschränkenden Funktionszusammenhanges die weitere Möglichkeit, dass sich Prinzipien — im Gegensatz zu Axiomen21 — auch untereinander widersprechen können und nicht ohne Ausnahme in ihrem Systembereich gelten22. Zwei Beispiele sollen das Gesagte verdeutlichen.
II. Zwei Beispiele für Prinzipien aus dem Wettbewerbsrecht
1. ) Erstes Beispiel: Das Prinzip Wettbewerb
Das „Prinzip Wettbewerb“ ist seit Bestehen des GWB immer wieder als das grundlegende Prinzip des Gesetzes und darüber hinaus der gesamten (sozialen) Marktwirtschaft hervorgehoben worden23. So heißt es etwa in dem Bericht des Bundestagsausschusses vom 29. Juni 1957: „Das Prinzip der Konkurrenzwirtschaft wird zum obersten Ordnungsgedanken des Gesetzes gemacht, wobei die Erkenntnis zugrunde liegt, dass die Wettbewerbswirtschaft allen anderen Ordnungen überlegen ist.“24
a) Dieses, dem Wettbewerbsrecht zugrundeliegende „Prinzip Wettbewerb“ lässt sich aber auch auf übergeordneter, wissenschaftsvergleichender Ebene nachweisen. So hat Michael Lehmann vom Standpunkt einer interdisziplinär höheren Warte, die einen vergleichenden Überblick über die Natur- und Geisteswissenschaften erlaubt, aus entsprechend umfassenderer Perspektive das „Prinzip Wettbewerb“ in einer vergleichenden Analyse der Wissenschaftsbereiche Evolutions-biologie, Ökonomik und Wirtschaftsrecht bestätigt gefunden25. Diesen Bereichen soll neben dem „Prinzip Wettbewerb“ auch ein „Prinzip Eigennutz“ zugrunde liegen26.
An dieser (den wissenschaftlichen Fachhorizont verdienstvoll erweiternden) Vorgehensweise wird deutlich, dass es insbesondere auf Standort und Perspektive ankommt, um entweder ein Prinzip oder ein (evtl. Unter-) System zu definieren. Denn es erscheint (ohne dass auf diese Frage hier näher eingegangen werden kann) ohne weiteres naheliegend, dass das „Prinzip Wettbewerb“ als ein „Grundelement der Evolution“27 aus anderer Perspektive, gewissermaßen im Sinne einer systemtheoretischen Relativitätstheorie, auch als ein „System Wettbewerb“ begriffen werden könnte. Das gilt gerade dann, wenn man, was hier dahingestellt werden soll, das „Prinzip Eigennutz“ als eigenes Prinzip und nicht nur als Wettbewerbskomponente begreifen wollte28. Diese Relativität zwischen Prinzip und System deckt sich jedenfalls gut mit den Ergebnissen von Canaris, der in seinen Prinzipien- und Systembeispielen z.B. den Gedanken der ungerechtfertigten Bereicherung oder den des Vertrauensschutzes zum einen als Beispiel für ein Prinzip, zum anderen (i.V.m. der dazugehörigen Haftung) als Beispiel für ein Untersystem anführt29.
Dass ferner das Prinzip Wettbewerb nicht ohne Ausnahme gilt und sich mit anderen Prinzipien widersprechen kann, erscheint ebenfalls ohne weiteres einsichtig. Zwar ist nun gerade für das Beispiel der Evolutionsbiologie einzuräumen, dass es dort infolge der begriffsimmanenten Dynamik grundsätzlich eine „Wettbewerbsbeschränkung durch Zustand“ eigentlich per definitionem nicht geben kann, so dass dieser Aspekt von Lehmann insofern zu Recht nicht erwähnt wird, doch gilt dies schon nicht mehr für den Bereich der gewöhnlichen „statischen“ Biologie. Man denke nur an den „Glücksfall“ einer besonders vorteilhaften genetischen Erbmasse, die ein Individuum gegenüber seinen Konkurrenten zu einem (übrigens wohl auch als Prinzip vertretbaren) „beatus possidens“ erheben30 und es dadurch einem aufreibenden Wettbewerb in vielen Bereichen entziehen kann31. Man denke aber auch an die Möglichkeiten der heutigen Gentechnologie (z.B. Herstellung eines interferonerzeugenden Bakteriums), durch die es vorstellbar erscheint, eine evolutionsbiologische Zwischenbilanz zu beeinflussen und letztere — potentiell auch willkürlich und vorteilsunabhängig (u.U. auch zurück in die Vergangenheit gerichtet) — zu verändern. Sofern man eine solche gewillkürte Künstlichkeit nicht etwa (da durch menschliche Intelligenz mittelbar bedingt) auch als per se evolutions-biologischen Prozess einstufen wollte — was m.E. unzutreffend wäre — müssen also selbst hier, im Grenzbereich der Evolutionsbiologie, letztlich doch Ausnahmen vom „Prinzip Wettbewerb“ zugestanden werden.
b) Demgegenüber fällt im wirtschafts- und wettbewerbsrechtlichen Bereich die Suche nach Ausnahmen vom „Prinzip Wettbewerb“ bedeutend leichter. Dies insbesondere aus zwei Gründen. Zum einen handelt es sich hier (zumindest in maßgeblichem Umfang) um eine Wertungswissenschaft32, für die (auch vom Grundsatz) abweichende Wertungen wesensimmanent und daher selbstverständlich sind. Zum anderen laufen hier besonders ausgeprägt wettbewerbskonträre Prinzipien entgegen, die das „Prinzip Wettbewerb“ oft als relativ zweitrangig33 zu verdrängen in der Lage sind.
Dabei soll hier von jenen zahlreichen, im Gesetz vorgesehenen „gewillkürten“ Ausnahmefällen, wie sie etwa die Bereichsausnahmen gem. § 99 ff GWB darstellen, abgesehen werden, weil (wie sich sogleich anschließend unter II. ergeben wird) die Berechtigung solcher Beispiele als Prinzipienausnahmen infolge fehlender (oder allenfalls nur sehr mittelbarer) Prinzipienimmanenz zumindest fraglich erscheinen kann. Doch auch abgesehen von diesen zahlreichen gesetzlichen Ausnahmefällen, in denen das „Prinzip Wettbewerb“ nicht, oder nicht konsequent verwirklicht worden ist, ergeben sich immer noch genügend Beispiele für Ausnahmen, die unmittelbar aus entgegen laufenden Prinzipien entspringen, z.B. aus dem Sozialstaatsprinzip (in Verknüpfung etwa mit dem Aspekt des Gemeinwohls), dem Marktgegenmachtprinzip (z.B. für den Arbeitsmarkt34), dem Territorialprinzip35 oder dem Grundsatz der Privatautonomie36.
c) Lehmann selbst nennt für das allgemeine Wettbewerbsprinzip die Grenze, jenseits derer durch „trial and error für den Menschen und seine Gesellschaft eine Überlebensgefahr“ entstehen könnte37, spricht also damit (ohne es ausdrücklich zu nennen) auch das übergeordnete und hier konträr laufende Selbsterhaltungsprinzip an, das aber aus anderer Perspektive (Darwinismus) bekanntlich gerade auch Ausdruck des „Prinzips Wettbewerb“ („unlauteren“ Wettbewerb wird man hier einschließen müssen) sein kann. Auch in diesem Bereich wird also ein variables System von Prinzipien erkennbar.
2. ) Zweites Beispiel: Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen
Als zweites Prinzipienbeispiel im wettbewerbsrechtlichen Zusammenhang soll ein von Steindorff postuliertes Prinzip dienen, das er als ein (im GWB herrschendes) „Prinzip vollständiger Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet hat38. Auch dieses Prinzip kann an den systemtheoretischen Erkenntnissen von Canaris gemessen werden, wobei zwei Merkmale besonders deutlich hervortreten.
a) Zum einen zeigt sich das von Canaris so genannte (bereits zitierte) erste Charakteristikum eines Prinzips mit besonderer Deutlichkeit, das besagt, dass Prinzipien sich nicht nur untereinander widersprechen können, sondern, und darauf liegt hier das Schwergewicht, nicht ohne Ausnahme in ihrem Systembereich gelten39. Das scheint sich hier in Anbetracht der zahlreichen Ausnahmen, bei denen Wettbewerbsbeschränkungen vom GWB bewusst nicht erfasst werden, auf den ersten Blick in geradezu krasser Weise zu bestätigen. Man denke z.B. nur an die bloße Verbietbarkeit in § 18 GWB, an die Missbrauchsaufsicht gem. § 22 Abs. 4 und 5 GWB, die nur gegenüber den zuvor definierten marktbeherrschenden Unternehmen gilt, an die Toleranzklausel gem. § 24 Abs. 8 GWB als negative Untersagungsvoraussetzung des Zusammenschlussverbots gem. § 24 Abs. 1 und 2 GWB oder an die (im einzelnen oft umstrittenen) Ausnahmen vom Kartellverbot gem. §§ 2 ff. und 99 ff. GWB. Sofern es sich bei diesen zahlreichen Ausnahmen um jene, von Canaris definierten prinzipienimmanenten Ausnahmen handeln sollte, wäre das von Steindorff postulierte Prinzip durch diese regelbestätigenden Ausnahmen insofern bestätigt.
Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, ob die von Canaris dargelegten prinzipienimmanenten Ausnahmemöglichkeiten nicht nur solche sind, die deshalb — notwendigerweise — vorhanden sind und hingenommen