Die Vampirschwestern – Ein zahnharter Auftrag. Franziska Gehm
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Ludo Schwarzer war nicht ganz normal. Er konnte in die Zukunft sehen. Manchmal. Leider war das Bild oft verschwommen. Schlechter Empfang. Ludos Opa meinte, Ludo hätte eine große Gabe. Ludos Vater meinte, er würde zu viel fernsehen.
„Wegen der Klassenarbeit beim Graup?“, fragte Ludo.
„Nein. Wegen Jacob und Silvania“, antwortete Helene.
„Ach so.“ Ludo blieb stehen, schloss die Augen und presste die schmalen Lippen aufeinander.
Alle anderen waren ebenfalls stehen geblieben. Sie betrachteten Ludo aufmerksam. Er atmete heftig. Dann machte er seltsame Geräusche. Er quietschte, er grunzte. Auf einmal zischte er wie ein Fahrradreifen, aus dem die Luft entweicht. Helene, Daka und Silvania wichen unwillkürlich zurück.
Plötzlich riss Ludo die Augen auf. Seine Wangen leuchteten rot. Er blinzelte ein paarmal, rollte den Kopf und schüttelte die Arme aus.
„UND?“, fragten die Mädchen wie aus einem Mund.
Ludo zuckte mit den Schultern. „Viel habe ich nicht gesehen. Auf jeden Fall kommt Jacob zur Nachhilfe. Und Silvania hat auf jeden Fall etwas an.“
„Gut zu wissen“, fand Daka.
Silvania sah Ludo mit weit aufgerissenen Augen fragend an.
„Na ja, weil du doch meintest, du hättest nichts zum Anziehen“, erklärte Ludo.
Die vier Freunde waren am Reihenhaus Nummer 23 angekommen. Während Silvania noch Ludos Vorhersage verdaute, fragte sich Daka, wie ihre Eltern auf ihren weitsichtigen Überraschungsgast reagieren würden. Doch noch nicht einmal Ludo sah voraus, dass er nicht die einzige Überraschung im Hause der Tepes sein sollte.
Toilettenrauschen
Dirk van Kombast stand mit seinen himmelblauen Püschelhausschuhen auf dem Klodeckel. In der linken Hand hielt er eine Gebrauchsanweisung. In der rechten Hand ein Abhörgerät. Es sah aus wie eine kleine Satellitenschüssel, aus deren Mitte ein Richtmikrofon herausragte. Dirk van Kombast studierte die Gebrauchsanweisung. Er sah das Abhörgerät an. Er runzelte die Stirn.
Vor ein paar Tagen war Dirk van Kombast von der „VI. International Vamptology Conference“ in New York zurückgekehrt. Der Vampirologenkongress war anstrengend gewesen, aber auch äußerst interessant. Ein Taxi hatte Dirk van Kombast vom Flughafen in die Reihenhaussiedlung gefahren. Mit einer leichten Erkältung, einem Jetlag und jeder Menge neuer Anregungen war er im Lindenweg Nummer 21 ausgestiegen.
„Press switch A to switch on the appliance“, las Dirk van Kombast. Er drehte das Abhörgerät hin und her. Nach oben und nach unten. Er hielt es näher ans Licht. Schließlich fand er „Switch A“. Er drückte auf den Schalter. Erwartungsvoll sah er das Gerät an.
Das Abhörgerät knatterte. Dirk van Kombast stellte es dicht an das kleine Toilettenfenster. Es zeigte zum Nachbarhaus Nummer 23. Er setzte sich die Kopfhörer auf. Dann hockte er sich auf die Toilette und lauschte.
Rauschen – „ich war“ – Rauschen – „rascht wie du“ – Rauschen – „mein Brud…“ – Rauschen – „nicimo!“ – Rauschen – „Elvira, du weißt do…“ – Rauschen.
Dirk van Kombast stand wieder auf. Das Abhörgerät hatte offenbar einen Wackelkontakt. Dabei war es ein originalverpacktes „Vampire-Best-Buy-Bug“ vom Vampirologenkongress. Laut Beipackzettel in Extremsituationen in Transsilvanien von erfahrenen Vampirjägern getestet und für unerlässlich befunden.
Dirk van Kombast wackelte am Kabel. Er schaltete „Switch A“ an und aus. Er klopfte auf die Kopfhörer. Dann hörte er wieder die Stimme von Herrn Tepes. Seinem neuen Nachbarn. Ein sehr seltsamer Mann. Wenn er überhaupt ein Mann war. Damit meinte Dirk van Kombast nicht, dass Herr Tepes eine Frau war.
Seit die Tepes in das Reihenhaus Nummer 23 eingezogen waren, hatte Dirk van Kombast einen unheimlichen Verdacht. Bis jetzt wusste er nur eins ganz sicher: Normale Menschen waren die Tepes nicht. Zu dem Ergebnis war er nach Auswertung seiner im Laptop gesammelten Beobachtungen gekommen.
Hätten die Leute von Dirk van Kombasts Hobby gewusst, hätten sie ihn für einen Spinner gehalten. Doch er war kein Spinner. Er war ein gut aussehender Pharmavertreter Ende dreißig. Manche Frauen fanden ihn unwiderstehlich gut aussehend. Sein Äußeres war tipptopp gepflegt. Nie vergaß er die Zahnseide beim Zähneputzen. Nie hatte er abgeknabberte Fingernägel. Nie lag eine Haarsträhne nicht dort, wo sie hingehörte.
Müsste man raten, was seine Hobbys waren, hätte man auf Golf, Pferderennen oder Austern-Essen getippt. Vielleicht auch auf kulturelle Städtereisen. Gar nicht so verkehrt. Doch wenn Dirk van Kombast nicht gerade Squash spielte, beim Friseur, bei der Maniküre oder im Solarium war, dann ging er auf die Jagd. Er jagte weder Häschen, Wildschweine, noch Löwen. Dirk van Kombast jagte Vampire.
Er hatte sich und seiner Mutter geschworen, den Kampf gegen die blutsaugenden Ungeheuer aufzunehmen. Sie hatten Dirk van Kombasts Mutter in den Wahnsinn getrieben. Sie hatten seine Mutter in die geschlossene psychiatrische Anstalt gebracht. Sie hatten ihm seine Mama weggenommen. Dirk van Kombast wollte Rache.
Er drückte die Kopfhörer fest auf die Ohren. Er horchte. Sollte sich sein unheimlicher Verdacht bestätigen, dann hatte er jetzt eine ganze Vampirfamilie direkt vor der Nase. Beziehungsweise den Ohren.
Das Gespräch zwischen Elvira und Mihai Tepes war hochinteressant. Das Rauschen dazwischen allerdings nicht. Dirk van Kombast wackelte ein paarmal am Kabel. Das Rauschen blieb. Daran war wohl im Moment nichts zu ändern. Er würde das Gerät später zur Reparatur bringen. Jetzt wollte er hören, was die Tepes besprachen. Auch wenn es ab und zu rauschte – immer noch besser, als gar nichts zu hören.
Dirk van Kombast machte es sich auf der Toilette bequem. Wie angenehm, dass der Klodeckel mit flauschigem Stoff bezogen war. Den geblümten Toilettenbezug hatte ihm seine Mutter zu Ostern geschenkt. Dirk van Kombast strich versonnen über die weichen Fusseln, während er dem Gespräch von Herrn und Frau Tepes lauschte.
Auf einmal hörte er weitere Stimmen. Er klopfte auf die Kopfhörer. Er wackelte am Kabel. Er zwickte sich in die Nase. Die Stimmen blieben. Dann erkannte er sie: Das waren die Töchter. Zwei seltsame Mädchen. Die eine, etwas rundere, trug altmodische Hüte und Handschuhe bis zum Ellbogen. Sie blinzelte immer, wenn sie ihn grüßte. Das andere Mädchen sah aus, als hätte es den Kopf in ein rußschwarzes Ofenrohr gesteckt und nach der Explosion wieder herausgezogen. Das wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass ihre Haare in alle Richtungen abstanden. Beide Mädchen waren leichenblass. Dirk van Kombast fand auch, sie rochen etwas muffig. Aber oft war er noch nicht in ihre Nähe geraten. Das war sicher auch besser so.
Vermutlich waren die Zwillinge gerade aus der Schule nach Hause gekommen. Familie Tepes war vollständig. Dirk van Kombast riss ein Stück vom fünflagigen Klopapier ab, putzte sich die Nase und atmete tief durch. Von jetzt an wollte er kein Wort mehr verpassen.
In der Finsternis
Im Keller des Reihenhauses Nummer 23 war es finster wie im Schlund eines Wals. Bis auf ein unregelmäßiges Atmen links neben ihm und ein leises Aufstoßen rechts neben ihm war es totenstill. Der Raum war kalt. Das lilafarbene Polster im Sarg war weich und roch modrig. Die Heimaterde war feucht und