Der Waldläufer. Gabriel Ferry

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Der Waldläufer - Gabriel  Ferry

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aller lebenden Sprachen, eigen ist, seinem Zuhörerkreis eine ziemlich lange Rede, deren Inhalt etwa folgender war: »Meine Kinder«, sagte er, »wie der ehrenwerte Don Juan de Dios Canelo hier eben versichert hat, ist ein großes Verbrechen diese Nacht begangen worden. Es konnte nicht fehlen, daß die Kenntnis von diesem Verbrechen zu den Ohren der Justiz gelangte – denn nichts entgeht dieser; aber ich danke nichtsdestoweniger dem Don Juan de Dios seine amtliche Mitteilung; ja, meine Kinder, seine amtliche Mitteilung. Dieser ehrenwerte Hausmeister hätte sie nur vollständiger machen müssen, indem er die Namen der Schuldigen aufdeckte …«

      »Aber Herr Alkalde«, unterbrach ihn Juan de Dios, »ich weiß sie ja nicht, obgleich meine Mitteilung, wie Ihr sagtet, eine amtliche sein mag; aber ich werde helfen, diese Schuldigen zu finden.«

      »Ihr versteht es, meine Kinder: Der würdige Canelo fleht in einer amtlichen Mitteilung die Hilfe der Justiz zur Bestrafung der Schuldigen an. Die Justiz wird nicht taub sein bei seinem Ruf. Es sei mir nun erlaubt, zu euch von meinen kleinen Geschäften zu reden und dann mich dem Schmerz zu überlassen, den mir das Verschwinden der Gräfin und des jungen Grafen von Mediana einflößt.«

      Hier machte der Alkalde Cayatinta ein Zeichen, dem alle seine angespannten Geisteskräfte noch nicht enthüllt hatten, durch welchen Dienst er den Gegenstand seines Ehrgeizes wohl gewinnen könnte; dann fuhr er fort: »Ihr kennt nicht, meine Kinder, die doppelten Bande, die mich an die Familie Mediana fesseln. Urteilt also über meinen Schmerz bei der Nachricht von dieser Gewalttat, die um so unbegreiflicher ist, als man weder weiß, warum, noch durch wen sie begangen ist. Ach, meine Kinder, ich verliere eine mächtige Beschützerin, und das Herz des treuen Dieners ist durchbohrt, während das des Geschäftsmanns nicht weniger grausam verwundet ist. Ja, meine Kinder, in der trügerischen Sicherheit, in der ich gestern noch versunken lag, war ich auf dem Schloß Mediana bezüglich meiner Pachtgelder.«

      »Um eine Frist zu erbitten!« wollte Cayatinta eben rufen, der in den Geschäften des Alkalden vollständig auf dem laufenden war. Aber dieser ließ ihm keine Zeit, die ungeheuerliche Tat zu begehen, die ihn auf immer der Hoffnung auf den versprochenen Lohn beraubt hätte. »Geduld, mein würdiger Cayatinta«, sagte der Alkalde, indem er sich gegen den Escribano wandte; »zähmt diesen Durst nach Gerechtigkeit, der Euch verzehrt … Ja, meine Kinder, und infolge jener Sicherheit, die ich jetzt beklage, übergab ich den Händen der unglücklichen Gräfin …«, hier schwankte die Stimme Don Ramons, »eine Summe, die dem auf zehn Jahre vorausbezahlten Pachtgeld gleichkommt.«

      Bei dieser unerwarteten Erklärung schnellte Cayatinta von seinem Stuhl empor, als ob er von einer Natter gestochen wäre, und sein Blut gerann in seinen Adern, als ein Lichtstrahl ihm die Ausdehnung des Fehlers zeigte, dessen er sich schuldig machen wollte.

      »Urteilt also über meinen Schmerz, meine Kinder; diesen Morgen sollte die Gräfin mir die Quittung darüber geben.«

      Diese Worte brachten eine tiefe Erregung unter seinen Zuhörern hervor, von denen keiner unter allen, die zugegen waren, an diesen traurigen Querstrich glaubte; niemand jedoch wagte es, seinen Unglauben zu zeigen. »Glücklicherweise«, fuhr der Alkalde fort, »kann der Eid glaubwürdiger Personen dieses Unglück wiedergutmachen.«

      Hier sprang Cayatinta wie lange Zeit zusammengepreßtes Wasser, wenn es endlich einen Ausweg findet, empor, streckte den Arm aus und rief, mit einem Mal herausplatzend: »Ich beschwöre es!«

      »Er beschwört es«, wiederholte der Alkalde.

      »Er beschwört es«, wiederholten die Umstehenden.

      »Ja, meine Freunde, ich beschwöre es noch einmal! Ich würde es immer beschwören! Obgleich ein Umstand mein Zartgefühl beunruhigt: Ich erinnere mich nämlich nicht mehr, ob der Alkalde der unglücklichen Gräfin Donna Luisa für zehn oder fünfzehn Jahre vorausbezahlt hat!«

      »Nein, mein teurer Freund«, unterbrach ihn Don Ramon mit einer Mäßigung, für die man ihm dankbar sein mußte, da er im besten Zug war, »es waren nur zehnjährige Pachtzinsen, die ich nun durch Euer kostbares Zeugnis nicht mehr verliere; Ihr könnt auch auf meine Dankbarkeit zählen.«

      Ich glaube es wohl, dachte der Escribano; zwei Jahre im Rückstand und zehn Jahre voraus macht rund genommen zwölf Jahre. Ganz entschieden habe ich auf die rotfarbigen Beinkleider unverjährbare Rechte! —

      Wir wollen den Leser nicht weiter mit der Erzählung dessen ermüden, was sich in dieser Sitzung zutrug, in der die Justiz geübt wurde, wie es noch sehr lange Zeit vor Gil Blas gebräuchlich war und wie es noch sehr lange in Spanien gebräuchlich sein wird; wir wollen ihn nur zu der Untersuchung mitnehmen, die der Alkalde und sein Gehilfe an Ort und Stelle selbst anstellten, in Begleitung der durch das Gesetz geforderten Zeugen. Man fing damit an, die Tür des Schlafzimmers, das von innen verriegelt geblieben war, aufzubrechen. Leere und halbleere Schubfächer lagen auf dem Boden. Nichts von allem aber zeugte bestimmte Spuren von Gewalt; eine freiwillige, aber übereilte Abreise konnte zu einer gleichen Unordnung in einem Zimmer Veranlassung geben.

      Das Bett der Gräfin, noch unberührt, bewies, daß sie sich nicht niedergelegt hatte, und enthüllte so den im voraus gefaßten Entschluß, den Augenblick der Abreise außerhalb des Bettes zu erwarten.

      Die Möbel waren an ihrem gewöhnlichen Platz, die Vorhänge der Fenster und des Alkovens waren nicht zerknittert; keine Spur eines Kampfes ließ sich auf dem Fußboden des Zimmers erblicken, der doch von zierlichen Steinchen verfertigt war, so daß die geringste ungewöhnliche Berührung ihn hätte verletzen oder Risse machen müssen.

      Der widerliche Geruch einer Lampe, die aus Mangel an Öl langsam erlischt, herrschte trotz der Luft, die hineindrang, noch in dem Zimmer; es war klar, daß man sie bis zum Morgen hatte brennen lassen – Verbrecher hätten sie ausgelöscht, um sich furchtlos ihrem traurigen Geschäft hingeben zu können —; tausend Kleinigkeiten endlich, die die Habgier hätten reizen können, waren in den Schubfächern geblieben. Zu all diesen trügerischen Anzeichen schüttelte der alte Juan de Dios mit einer Miene des Zweifels den Kopf. Er fand etwas in all diesen Dingen, was seinen Verstand verwirrte und seine Auffassungskraft – die übrigens niemals die beste gewesen war – überschritt; aber sein gesunder Verstand wehrte sich gegen den Gedanken, daß seine Herrin hätte fliehen können, und zwar auf eine außergewöhnliche Weise. In seinen Augen war offenbar ein Verbrechen begangen worden – aber wie sollte man es erklären? Der Mörder hatte keine Spuren zurückgelassen. Der alte, ehrenwerte Diener betrachtete mit trostlosem Auge dieses öde Zimmer, die auf dem Fußboden zerstreut liegenden Kleider seiner Gebieterin und die eingedrückte Wiege, die noch die Spur des jungen Grafen an sich trug und in der er den Tag vorher unter der Obhut seiner Mutter rosig und lächelnd schlief.

      Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ging Juan de Dios auf einen eisernen Balkon, der sich nur wenig über den Boden erhob. Seine Augen befragten das sandige Ufer, das sich unter dem Balkon ausdehnte; aber kein Abdruck war auf einer harten und kalkigen Fläche zurückgeblieben. Die Strandsteine rollten tosend auf das Ufer, ohne mehr von menschlichen Spuren zu verraten, als die Oberfläche eines Sees den Schatten der Vögel bewahrt, die darüber hinfliegen. Der Wind pfiff, der Ozean murrte wie immer, und unter diesen Stimmen der Natur erhob sich keine, um den Schuldigen zu entdecken. Nur am Horizont zeichneten sich noch die weißen Segel eines Schiffes, das das Weite suchte, auf dem fernen Azur des Meeres ab.

      Während der alte Diener schweigend betete und mit einem träumerischen Blick das Schiff, das enteilte, verfolgte, hörten alle Umstehenden – mit Ausnahme des Alkalden und des Escribano – traurig den düsteren Tönen des Windes zu, der sich in den Felsen verfing und auf diesen Höhen bei Tag und Nacht abwechselnd zu weinen, zu seufzen oder zu brüllen scheint.

      Der Alkalde und sein Schreiber teilten wohl stillschweigend die Ansicht Juans de Dios. Alle beide glaubten an ein Verbrechen; aber bei der Unmöglichkeit, das geringste sichtbare Zeichen zu finden, die Hand auf das geringste Individuum zu legen,

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