«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt. Grautoff Ferdinand Heinrich
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Der Reichskanzler hatte sofort dafür gesorgt, daß gleichzeitig mit dem Telegramm, welches die Mobilmachung bekannt gab, an sämtliche Telegraphenstationen und an sämtliche Zeitungen eine Mitteilung ergangen war, des Inhaltes: Er müsse darum ersuchen, alles, was sich auf die Truppenmobilisierung beziehe, mit der größten Diskretion zu behandeln, und auch die Berichte über Vorgänge in der eigenen Stadt so abzufassen, daß die Richtung der Eisenbahntransporte und ihre Stärke, sowie die Namen der Truppenführer nicht genannt würden. Er ersuche die Redaktionen, diesem Wunsche Folge zu leisten in der Erwägung, daß dem Feinde durch eine allzu reichliche Berichterstattung leicht wertvolles Material zugehen könnte. Er habe dafür gesorgt, daß der Verkauf von Zeitungen und ihre Versendung durch die Post an der Landesgrenze überall sistiert würde. Er bäte aber auch seinerseits, seinem Wunsche Folge zu leisten, damit nicht durch irgendwelche Indiskretionen Preßmeldungen über die Grenze gelangen könnten. Er hatte diese amtliche Mitteilung auch an die sozialdemokratische Presse gerichtet und dabei erwähnt, daß er von jedem deutschen Blatte, einerlei, welcher Parteirichtung es angehöre, erwarte, daß es dieser Regierungsverfügung Folge leiste. Er bäte, die Leser davon zu unterrichten, daß sie vorläufig über die Truppentransporte und den Aufmarsch der Armeen nichts erfahren könnten und sie darauf hinzuweisen, daß dies im Interesse der militärischen Verteidigung geschehe. Er werde jedoch dafür sorgen, daß alles Wissenswerte über die Vorgänge auf dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze der Presse rechtzeitig zugehe; dagegen habe er die lokalen Polizeiverwaltungen damit beauftragt, darauf zu achten, daß seine Anordnungen über den Nachrichtendienst aufs Genaueste befolgt würden; er hoffe, daß es nicht nötig sein werde, von Zwangsmaßregeln Gebrauch zu machen.
Diese Verfügung des Reichskanzlers über eine freiwillige Preßzensur im militärischen Interesse wurde bekanntlich von allen Zeitungen aufs Gewissenhafteste befolgt, so daß ein Eingreifen der Behörden nirgends nötig wurde.
Antwerpen von den Engländern besetzt
Das Nachrichtenmaterial aus dem Auslande war mehr als dürftig, aber immerhin drang einiges auf Umwegen über die Grenze. So hieß es, die englische Flotte sei vor Antwerpen erschienen und habe die Festung, ohne Widerstand zu finden, besetzt. Diese Meldung, die über Amsterdam einlief und mehrfach von anderen Orten bestätigt wurde, gab verschiedenen liberalen Blättern Anlaß, sich in langen, theoretischen Artikeln über die Neutralitätsfrage an sich und insbesondere Belgiens Neutralität zu verbreiten. Diese Schreibtischpolitiker konnten sich auch jetzt noch immer nicht zu der Erkenntnis aufraffen, daß die Flut eines Krieges nicht vor papiernen Wänden Halt macht, sondern schonungslos über alle Verträge über Neutralität und derlei schöne Sachen hinwegrauscht. Es konnte kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß sich England in Antwerpen eine Operationsbasis für den Landfeldzug gesichert hatte, gewissermaßen einen festländischen Brückenkopf für Truppentransporte. Welche Stellung die belgische Regierung dazu einnahm, war nicht zu ersehen, bis unser Gesandter am 21. März mittags in Aachen eintraf und der Berliner Regierung mitteilte, man habe ihm in Brüssel einfach seine Pässe zugestellt, mit dem Ersuchen, das Land zu verlassen; somit stand auch Belgien in der Reihe der Gegner, es war von Frankreich und England vor die Frage gestellt worden, freiwillig oder unfreiwillig seine Grenzen den einmarschierenden Truppen zu öffnen.
Die Stellung der Niederlande
Durch die Okkupierung oder den Anschluß Belgiens an die Verbündeten – Genaueres war am 20. März noch nicht darüber bekannt – waren die Niederlande in eine sehr prekäre Lage versetzt worden. Sie hingen gewissermaßen zwischen den Kriegführenden in der Luft. Außer stande durch ihre kleine Armee, die Landesgrenzen zu verteidigen und den Volksheeren der großen Nachbarreiche somit widerstandslos preisgegeben, schwankte die niederländische Regierung zwischen einem Versuch, ihre Neutralität zu bewahren und der Entscheidung, zu welcher von beiden Parteien sie sich schlagen sollte. Folgte man Englands Fahnen, so konnte man vielleicht hoffen, den ostindischen Kolonialbesitz aus dem Trümmersturz zu retten. Schloß man sich dem deutschen Nachbar an, so bestand eine Möglichkeit, daß Deutschland auch die niederländische Grenze schützte. Andererseits war dann die kleine niederländische Flotte in Gefahr, von den Engländern ohne weiteres überrannt zu werden, wodurch dann auch die Seestädte in die Gewalt der Engländer fielen. Wohl war man sich im Haag jetzt über die Versäumnisse der letzten Jahre klar, als man die Hände, die sich von Osten hilfreich darboten, immer wieder eigensinnig zurückwies und durch das Beharren auf einer mißtrauischen, chauvinistischen Politik glaubte, die Rolle einer politischen Macht spielen zu können. Jetzt fielen die Entscheidungen, ohne daß man im Haag eine Möglichkeit hatte, sie irgendwie beeinflussen zu können. Man ging über das Bestehen des niederländischen Staates einfach zur Tagesordnung über. Holland hatte dasselbe Geschick, wie das benachbarte Belgien, und ohne daß weitere Schritte von der Regierung – das Ministerium hielt zwar dauernd Sitzungen ab, wurde aber schließlich von den Ereignissen überrascht – ergriffen wurden, ohne daß überhaupt ein diplomatisches Aktenstück mit dem Auslande gewechselt wurde, hatte sich das Schicksal des Staates bereits erfüllt. Noch ehe ein sentimentaler Protest der Niederlande in London eintraf, waren die Engländer bereits vor Vlissingen erschienen und im südlichen Teile des Landes standen bereits deutsche Truppen auf niederländischem Boden. Daß man jetzt das tat, was man rechtzeitig hätte vorbereiten sollen, hatte kaum noch einen Wert; der Anschluß der Niederlande an Deutschland verstärkte die Wehrkraft des Reiches nur um die völlig unvorbereitete, kleine niederländische Armee und einige Küstenpanzerschiffe, die nicht einmal mehr die deutschen Häfen erreichten, sondern auf der Höhe von Texel von einem Detachement der englischen Flotte nach einem halbstündigen Kampfe abgetan wurden. Der Rest der niederländischen Marine wurde in den Kriegshäfen einfach von den Engländern abgewürgt. Der englische Admiral rüstete diese Fahrzeuge noch auf den niederländischen Werften mit den dortigen Beständen aus und reihte sie dann dem englischen Reservegeschwader ein.
Anfang April erschienen vor Batavia einige englische Schiffe. Das Gefecht auf der Reede endete mit der Vernichtung der geringen niederländischen Streitkräfte. Nach Verlust zweier kleiner Kreuzer besetzten die Engländer Batavia und machten die Stadt zu einer englischen Flottenbasis. Die Gefechte der (von Hongkong aus) gelandeten englischen Truppen mit der niederländischen Kolonialarmee dauerten bekanntlich noch einige Monate, dann aber zogen die Niederländer es vor, eingeengt zwischen einem europäischen Feind und den grausamen Banden der eingeborenen Volksstämme, zu kapitulieren, um ihr Leben nicht nutzlos an eine verlorene Sache zu setzen. Im Mai existierten niederländische Kolonien nicht mehr und das kleine Mutterland ward mit zum Schauplatz der Kämpfe, die hier, auf dem Grenzgebiet zwischen West und Ost, die friedlichen Bewohner furchtbar in Mitleidenschaft zogen. Über dem Grabe der niederländischen Selbständigkeit aber prangte die Inschrift: „Eine versäumte Gelegenheit“.
Alarmierende Nachrichten
Am Abend des 20. März waren überall an der westlichen Grenze vom Dollartbusen an bis hinunter nach Lörrach, alle Stationen der Grenzpolizei bereits von militärischen Kommandos besetzt. Der gesamte Grenzverkehr hatte schon um die Mittagsstunde völlig aufgehört. Wer sich von den eintreffenden Reisenden nicht als Reichsangehöriger ausweisen konnte, wurde zurückgeschickt, und andererseits ließ man niemand, auch keinen Fremden mehr von diesseits über die Grenze, schon um Indiskretionen von seiten Privatpersonen hinsichtlich der Mobilmachung zu verhindern.
Besonders in den Hafenstädten, wo die Nachrichten aus aller Welt bis dahin zusammengeflossen waren, empfand man das plötzliche Abschnappen der Kabelmeldungen als störend. Man war von der Außenwelt völlig abgeschnitten, und wenn man auch das gewöhnliche Depeschenmaterial, soweit es sich auf politische Vorgänge bezog, nicht gerade sehr entbehrte, so erzeugte doch das Ausbleiben der Meldungen über