«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt. Grautoff Ferdinand Heinrich

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übermittelt: Krieg mobil.

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      Noch an demselben Abend wurden sämtliche diplomatischen Vertreter des Reiches im Ausland über die politische Lage dahin informiert, daß die Verhandlungen in London völlig ergebnislos verlaufen seien und daß die deutsche Regierung der drohenden Gefahr Rechnung getragen habe, indem sie die Mobilisierung des Landheeres, sowie der Flotte angeordnet habe. Es herrsche noch kein Kriegszustand, aber man müsse auf Grund der Nachrichten, die man aus England erhalten habe, befürchten, daß die englische Flotte ohne Kriegserklärung die deutschen Häfen und Küsten angreifen werde, wie das ja vom Zivillord der englischen Admiralität und in der englischen Presse in der letzten Zeit öfters ausgesprochen worden sei. Sollte die telegraphische Verbindung zwischen Berlin und dem Auslande unterbrochen werden, wie das zu erwarten sei, so seien die diplomatischen Vertreter des Reiches angewiesen, ihren letzten Instruktionen gemäß, die am Tage vorher noch in einer chiffrierten Depesche versandt worden seien, zu handeln. Die Vorgänge in Paris legten die ernstesten Befürchtungen nahe, daß Frankreich sich dem britischen Feinde anschließen werde, ja daß es vielleicht von vornherein gesonnen sei, die Operationsbasis zu Lande gegen die deutschen Grenzen abzugeben. Es scheine, daß Abmachungen zwischen London und Paris beständen, derartig, daß man annehmen könnte, die Mobilisierung des französischen Heeres sei bereits weiter gediehen, als die französische Presse in den letzten Tagen habe erkennen lassen. Jedenfalls sei zu befürchten, daß die französische Flotte gleichzeitig mit der englischen vorgehen werde. Es sei so gut wie sicher, daß Österreich sich Deutschland anschließen werde, soweit es überhaupt über seine militärischen Kräfte in Anbetracht der inneren Krisis werde verfügen können. Nach Meldungen aus Rom gewinne es den Anschein, daß England durch ein Ultimatum, welches durch ein plötzliches Erscheinen der englischen Flotte vor den italienischen Häfen gestützt werde, Italien zum Abfall vom Dreibund drängen werde. Man hoffe, daß Italien sich durch englische Drohungen nicht zwingen lassen werde, seine Dreibundsverpflichtung zu ignorieren. Die Entscheidung hänge in Rom jedenfalls an Stunden, die letzte Versicherung von seiten der italienischen Regierung laute dahin, daß sie in der gegenwärtigen Krisis es mit ihrer Ehre nicht für vereinbar halte, alte Bündnisverpflichtungen zu ignorieren, doch sei dem gegenüber zu bedenken, daß solche Entschlüsse vielleicht doch durch ein übermächtiges Auftreten einer feindlichen Macht wankend gemacht werden könnten. Einstweilen sei man also ganz auf sich selber angewiesen und jedenfalls habe man die Macht des ersten Anpralls allein auszuhalten. Daß Rußland sich neutral verhalten werde, sei so gut wie sicher.

      Als Fürst Bülow nach durcharbeiteter Nacht in früher Morgenstunde, da bereits der junge Tag durch die Vorhänge schimmerte, seinem Legationssekretär die eben eingelaufene letzte Post abnahm, fand er oben aufliegend ein offizielles Schreiben des deutschen Botschafters in London. Er öffnete es und durchflog es.

      „Da teilt uns unser Botschafter offiziell mit, die Universität London habe Sr. Majestät dem Kaiser am 10. März die juristische Doktorwürde verliehen in Anerkennung seiner großen Verdienste um die Erhaltung des Weltfriedens“.

      „Das nennt man einen Treppenwitz der Weltgeschichte“, sagte der Kanzler, „kommen Sie, Hollmann, jetzt wollen wir noch einige Stunden schlafen! Den ersten Vortrag bitte ich mir um 8 Uhr zu halten.“

      Krieg mobil

      Wie einst zwischen Odins Adler und dem Drachen Nidhöggr das Eichhörnchen Ratatösker am Stamme der Weltesche auf und nieder springend Zankworte hin und her trug, den nimmermüden Streit zwischen den Kämpfern des Lichtes und den dunklen Mächten immer aufs neue entfachend, so weckte der elektrische Funke jetzt den Drachen der Zwietracht aus seinem Schlummer. An allen Kontaktpunkten, da wo die Midgardschlange der modernen Welt, die alle Länder umschlingt, ihren Rachen öffnet und ihre blanken Zähne bleckt, leuchtete jetzt der kleine, grüne Funke des Unheils auf. In der Abendstunde des 19. März rasselten an allen Apparaten die elektrischen Glocken, tönte das ratternde Geräusch des Morsetelegraphen, ein kurzer Streifen weißen Papieres erschien mit den inhaltschweren Worten: Krieg mobil.

      Auf allen Redaktionen tönten in später Abendstunde die Telephonklingeln: Extrablattmeldung aus Berlin, und mit zitternden Federzügen entstanden auf dem Papier die wenigen Zeilen, die 60 Millionen die Kunde zutragen sollten, daß der Kaiser die Mobilisierung der Land- und Seemacht befohlen habe.

      Noch war man außer stande, die ganze Wucht dieses Ereignisses zu erfassen und schon lag das weiße Blatt am Rande des Setzerkastens, die bleiernen Lettern fügten sich aneinander, und hinein gingen diese kurzen Metallstreifen in die Maschine, die mit sausendem Schwunge diesen unscheinbaren Bissen erfaßte und herumwirbelte. Und heraus flatterten die weißen, gedruckten Papierfetzen, von Dutzenden geschäftiger Hände erfaßt, die sie hinaustrugen auf die Straße, wo sie den Strom des Lebens plötzlich zum Stillstand brachten.

      Krieg mobil! – Die Extrablätter klebten bereits an allen Straßenecken und an allen Schaufenstern, wo sich die Menge vor ihnen staute und wo man mit starren Augen immer wieder die wenigen Worte las, daß der Kaiser sein Volk rufe.

      Als erster Tag der Mobilmachung galt der 20. März. Das ganze friedliche Leben des Volkes stand still. Der Arbeiter legte sein Werkzeug nieder und ging heim. In allen Schreibstuben und Kontoren ward es leer und in der stillen Arbeitsklause des Gelehrten hatte die Feder Ruhe. Des Kaisers Ruf war durch das Land gegangen und man bestellte sein Haus, um morgen hinauszuziehen auf die Sammelplätze, auf die Kasernenhöfe, um sich dort als wehrhafter Mann einzureihen und des Befehles zu harren, der das Volk in Waffen an die Grenzen führen sollte.

      Die Grenzkorps waren so gut wie mobil und standen nach 24 Stunden, am Abend des 20. März, bereits in klirrender Rüstung da, bereit, dem Angriff des Feindes zu begegnen. Auf allen Bahnstationen des Reiches aber begannen bereits am Mittag und Abend des 20. März die ersten Truppentransporte. Es war fast überall das gleiche Bild. Eine kurze Ansprache der Truppenführer auf dem Kasernenhofe, die mit einem Hurra auf den obersten Kriegsherrn schloß. Dann Still gestanden! … Bataillon marsch! … Die Musik setzte ein und hinaus ging’s auf die Straße, wo die Truppe von einer dicht gedrängten Menschenmenge mit lauten Rufen empfangen wurde. Die flotten Armeemärsche entfachten schnell eine patriotische Stimmung, die Straßenjugend ließ es sich nicht nehmen, jedes Bataillon bis zum Bahnhof zu geleiten, und man sah darüber hinweg, daß die Ordnung im Glied nicht so streng aufrecht erhalten wurde, wenn Mütter und Bräute sich an die Reihen der marschierenden Leute herandrängten, um noch einen letzten Händedruck zu erhaschen. Auf den Bahnhöfen hatte die Bevölkerung dafür gesorgt, daß den Truppen noch ein letzter Trunk und eine letzte Liebesgabe gereicht wurde.

      Einsteigen! hieß es dann, noch ein Kuß, eine Umarmung, hinein dann in die Wagen, die auf Tage hinaus oft das Heim der Ausziehenden bilden sollten. Immer wieder reichte man sich die Hände durch die Fenster, dann ein schriller Pfiff der Lokomotive, ein brausender Hurraruf der Menge und unter Tücherschwenken ging es fort, immer weiter und immer schneller, bis der Zug den Blicken der Zurückgebliebenen entschwand. Es war ganz wie anno 70, nur daß man damals, verwöhnt durch die Erfolge von 64 und 66, mit dem sicheren Gefühl des Erfolges ins Feld zog, während jetzt die Ungewißheit über die Zahl und Stärke der Gegner das freudige Siegesgefühl und die nationale Begeisterung etwas dämpfte.

      Daheim saß man wieder zwischen den leeren Wänden und zergrübelte sich den Kopf über das, was werden mochte, während die, die jetzt der Grenze zueilten, doch wenigstens der Gefahr frisch und klar ins Auge sehen konnten. Man ließ die Arbeit ruhen, die Erschütterung für das gesamte wirtschaftliche Leben war zu groß, als daß man gleichmütig wieder zum Werkzeug der täglichen Arbeit greifen konnte. Man hatte das Bedürfnis sich mitzuteilen und auszusprechen, trieb sich planlos auf den Gassen herum, schloß sich jeder marschierenden Soldatenabteilung ohne weiteres an und kehrte dann immer wieder dahin zurück, wo die neuesten Extrablätter ausgegeben wurden.

      Was man aus ihnen erfuhr, war jedoch wenig genug, denn durch die Erfahrungen des russisch-japanischen Krieges und auch des Burenkrieges gewitzigt, hatte die deutsche Regierung auch ihrerseits eine scharfe Depeschenzensur

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