«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt. Grautoff Ferdinand Heinrich
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In der französischen Deputiertenkammer hatte ein Abgeordneter der nationalistischen Partei den Minister des Auswärtigen interpelliert über den Zwischenfall von Samoa. Er hatte gefordert, daß die französische Regierung sich gegenüber der neuen Konstellation in der Politik so verhalten möchte wie es die Ehre Frankreichs, seine Bündnispflicht gegenüber England und das Andenken an alte Schmach erfordere. Der Minister des Auswärtigen hatte darauf eine Darstellung der Ereignisse vor Apia gegeben, in der bekannten Form und hatte hinzugefügt, daß die deutsche Regierung in London strenge Genugtuung gefordert habe, darauf sei die Antwort ergangen: Man sei leider nicht in der Lage eine solche zu gewähren, im Gegenteil müsse man fordern, daß Deutschland seinerseits für den unmotivierten Angriff auf die englischen Schiffsmannschaften eine Genugtuung leiste. Man war demnach in Paris schon sehr genau über den Verlauf der diplomatischen Verhandlungen orientiert und wurde anscheinend von London aus auf dem Laufenden gehalten. „Er habe, so fuhr der Minister fort, unbedingt zuverlässige Nachricht durch Frankreichs diplomatischen Vertreter erhalten, daß man in London fest entschlossen sei, auf seinen Forderungen zu beharren. Wenn Deutschland durch das Verhalten seines Gouverneurs auf Samoa den Krieg vom Zaune gebrochen habe, so sei England entschlossen, den Handschuh aufzunehmen und, wie mir versichert wird, lassen die Vorbereitungen der englischen Flotte keinen Zweifel darüber zu, daß eine friedliche Beilegung des Zwischenfalles wenig wahrscheinlich ist. Man ist jenseits des Kanales der Ansicht, daß das Auftreten Deutschlands in internationalen Fragen seit Jahren ein derartiges gewesen ist, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, daß Deutschland die Absicht hat, sich über die im internationalen Verkehr traditionellen Formen hinwegzusehen und in falscher Beurteilung seiner Machtmittel zur See es auf einen Bruch der Beziehungen zu den Völkern angelsächsischer Rasse ankommen zu lassen. Er stelle dem Hause anheim, ob dies der Moment sei, das provozierende Auftreten des deutschen Reiches in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, auf daß man für alle Zukunft Ruhe vor diesem Friedensstörer habe. Er stelle es dem Hause anheim, ob Frankreich in der Lage sei, eine solche Beunruhigung der ganzen Welt durch Deutschland und insbesondere der Staaten, mit denen man einesteils durch nationale Traditionen verbunden sei und mit denen man andererseits einen Vertrag geschlossen habe, der zwar Frankreich im Kriegsfalle keine Verpflichtungen auferlege, es jedoch vor die Frage stelle, ob es die Hoffnung auf die Wiedererlangung ihm geraubter Länder auf ewig begraben solle“.
– Es hieß weiter in der Depesche, in der französischen Kammer hätten sämtliche Parteien (mit Einschluß der Sozialdemokraten) eine Tagesordnung eingebracht, die der Regierung in ihren Entschlüssen vollkommenes Vertrauen ausspreche. Diese Tagesordnung sei einstimmig angenommen worden und die Kammersitzung habe geschlossen unter Rufen: à Berlin, à Berlin! In Paris herrschte größte Begeisterung und eine Stimmung, die keinen Zweifel darüber ließ, daß man mit dem Ausbruch eines Krieges gegen Deutschland bereits in den nächsten Stunden rechne.
Eine weitere Meldung aus Genf ließ erkennen, daß in Brest, Cherbourg und Toulon Maßregeln zur Mobilisierung der Flotte getroffen würden.
Eine Depesche aus Brüssel wollte bereits wissen, der Befehl zur Mobilmachung der französischen Ostkorps sei schon am Vormittag ergangen.
Das war also das, worüber man so oft gesprochen hatte, was man so oft sich als in ferner Zukunft liegend ausgemalt hatte, das war der Krieg. Überall stockte der Pulsschlag auf einer Sekunde Dauer. Über die Vergangenheit, über das friedliche Leben des Tages machte man in Gedanken einen Strich, von heute und dieser Stunde an war man ein anderer als gestern und ehegestern. Das ganze Leben der Kulturwelt versank in einem Augenblick in Vergessenheit, das Leben der europäischen Völker ward in einer Stunde zurückgeschraubt um Jahrzehnte, um Jahrhunderte. Man stand wieder, die Flinte im Arm, als Volk in Waffen an des Reiches Grenzen.
Und immer weiter schäumte der Gießbach, Wirbel und Strudel ziehend in den dunklen Wogen der Menge. Dann flossen die Wasser wieder zusammen, breit und majestätisch, und dahin brauste ein breiter Strom, aus allen Seitenstraßen weiteren Zufluß an sich ziehend und wogte kaum sich einengen lassend von den Häusermauern, zu einem See sich erweiternd vor des alten Kaisers schlichtem Hause, dann wieder sich einpressend vor dem Zeughaus, wo die erkämpften Waffen und Fahnen stumme Zeugen waren von des preußischen Heeres Ruhm und Tapferkeit. Noch einmal eingeengt zwischen den Geländern der Steinbrücke floß er dann breit hinaus auf den weiten Platz vor dem Kaiserschloß. Und jetzt lohte sie auf die nationale Begeisterung des Volkes, und während man bisher stumm, gedrückt von dem plötzlich hereinbrechenden Unheil schweigend dahin gewandert war, jetzt brach der Sturm los unwiderstehlich, alles mit sich fortreißend und treibend, auch die behelmten Diener der öffentlichen Ordnung, die vergebens versucht hatten, die erregten Volksmassen in Reihen längs der Bürgersteige zu ordnen; alles durcheinander wirbelnd, so flutete der Strom der Menschenmenge hin auf den Schloßplatz, dort sich stauend und bis zu den Terrassen vor dem Schlosse emporschäumend und über sie hinwegleckend.
Und nun begann es irgendwo, einer fing an und die anderen stimmten ein, und wie mit dem donnernden Tosen der Brandung scholl er hinauf, der alte Siegessang der Hohenzollern, daß nicht der Rosse und Reisigen Macht, sondern des freien Mannes Liebe den Herrscherthron wie ein Fels im Meere gründet: „Heil Dir im Siegerkranz!“ Wie Sturmgebrüll, wie des Orkans Gewalt klang es, Zehntausende jubelten hier des Reiches Kaiser entgegen und nicht enden wollte es und immer wieder von neuem begann es, über den grauen Mauern des Schlosses schwebte flatternd im Märzwinde das königliche Blutpanier der Hohenzollern. Und hinter dem Balkon, auf dem einst Friedrich Wilhelm IV. die tiefste Demütigung erlitt, begann jetzt die eine Hälfte der Glastür zu zittern, sie wich nach innen zurück, eine Hand erschien oben am anderen Türrahmen, schob mühsam einen Riegel zurück, einen Moment sah man in das Dunkel des dahinter liegenden Raumes, dann ward eine blaue Uniform sichtbar und festen Schrittes trat der Kaiser auf den Balkon. Er schien zu zögern, wandte sich nochmals nach rückwärts, winkte mit der Hand, die Kaiserin stand neben ihm, und während der Gesang plötzlich stockte und abflaute und sich in die Tiefe des Lustgartens bis hinten zum Museum verlor, wo er zwischen den Gebäuden langsam im Widerhall erstarb, brausten dem Kaiser donnernde Hochrufe entgegen. Er legte die Hand grüßend an den Helm, sprach zu der Kaiserin, wies auf die Menschenmassen dort unten vor ihm und grüßte wieder und wieder. Und von neuem begann der Gesang, diesmal das alte Sturmlied von anno 70: „Die Wacht am Rhein“, das unser Volk auf seinem Siegeszuge geleitet. Es ward von neuem hinausgesungen, des Reiches Schirmherrn das Gelübde bietend, daß auch in dieser ernsten Stunde des Volkes Heer treue Wacht halten werde an des Reiches Westgrenze.
Und immer neue Jubelrufe erschollen, als neben dem Kaiser die schlanke Gestalt des Kronprinzen auf dem Balkon erschien. Kaiser Wilhelm legte seinem Sohne die Hand auf die Schulter, zu ihm eindringlich sprechend. Dann trat er an die Brüstung des Balkons und stützte sich mit der Linken auf ihren steinernen Rand, festen Blickes auf die Menge herniederschauend, und als sich sein Blick nach links verlor, wo die Via triumphalis der Linden bis an den Säulenbau des Brandenburger Tores schwarz von Menschen sich schier endlos dehnte, und er den Blick dann wieder zurückwandte auf die Menschenmasse vor ihm, die mit erhobener Rechten ihm gleichsam neue Heeresfolge zuschwor, da führte er in tiefer Ergriffenheit die Hand an die Augen, von denen eine Träne hernieder perlte. Da ward es leise still dort unten, ein jeder fühlte, daß in dieser heiligen Stunde des Kaisers Herz zusammenschlug mit dem des Volkes. Der Kaiser schien sprechen zu wollen, man sah wie er die Lippen bewegte, doch von neuem brauste der Jubel empor und mit einer kurzen, schnellen Bewegung trat der Kaiser zurück von der Brüstung, winkte noch einmal und verschwand mit der Kaiserin und dem Kronprinzen im Dunkel des Zimmers. Da kam plötzlich neue Bewegung in die Menge, über den Köpfen derselben erblickte man den oberen Teil einer Droschke, die sich langsam und nur ruckweise vorwärts zu schieben vermochte, bis sie kurz vor der Schloßbrücke still hielt und wie ein Wrack in der Brandung hilflos liegen blieb. Dann öffnete sich eine schmale Gasse und langsam erkämpfte sich der Reichskanzler Fürst Bülow, von stürmischen Rufen begrüßt, den Weg zum Schloß. Erst spät am Abend kehrte der Kanzler, der sich nur schwer aller