Der Zauberberg. Volume 1. Томас Манн

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Der Zauberberg. Volume 1 - Томас Манн

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einem zu Anfang des abgelaufenen Jahrhun-derts auf schmalem Grundstück im Geschmack des nordischen Klassizismus erbauten, in einer trüben Wetterfarbe gestrichenen Haus an der Esplanade, mit Halbsäulen zu beiden Seiten der Eingangstür, in der Mitte des um fünf Stufen aufgetreppten Erdgeschosses, und zwei Obergeschossen außer der Beletage, wo die Fenster bis zu den Fußböden hinuntergezogen und mit gegossenen Eisengittern versehen waren.

      Hier lagen ausschließlich Repräsentationsräume, eingerechnet das helle, mit Stuck verzierte Eßzimmer, dessen drei weinrot verhangene Fenster auf das rückwärtige Gärtchen blickten, und wo während der achtzehn Monate Großvater und Enkel alltäg-lich um vier Uhr allein miteinander zu Mittag aßen, bedient von dem alten Fiete mit den Ohrringen und silbernen Knöpfen am Frack, der zu diesem Frack eine ebensolche batistene Hals-binde trug, wie der Hausherr selbst, auch auf ganz ähnliche Art das rasierte Kinn darin barg, und den der Großvater duzte, in-dem er plattdeutsch mit ihm sprach; nicht scherzender Weise – er war ohne humoristischen Zug – , sondern in aller Sachlichkeit und weil er es überhaupt mit Leuten aus dem Volk, mit Spei-cherarbeitern, Postboten, Kutschern und Dienstboten so hielt. Hans Castorp hörte es gern, und sehr gern hörte er auch, wie Fiete antwortete, ebenfalls platt, indem er sich beim Servieren von links hinter seinem Herrn herumbeugte, um ihm in das rechte Ohr zu sprechen, auf dem der Senator bedeutend besser hörte als auf dem linken. Der Alte verstand und nickte und aß weiter, sehr aufrecht zwischen der hohen Mahagonilehne des Stuhles und dem Tisch, kaum über den Teller gebeugt, und der Enkel, ihm gegenüber, betrachtete still, mit tiefer und unbewußter Aufmerksamkeit, die knappen, gepflegten Bewegungen, mit denen die schönen, weißen, mageren alten Hände des Großvaters mit den gewölbten, spitz zulaufenden Nägeln und dem grünen Wappenring auf dem rechten Zeigefinger einen Bissen aus Fleisch, Gemüse und Kartoffeln auf der Gabelspitze anordneten und unter einem leichten Entgegenneigen des Kop-fes zum Munde führten. Hans Castorp sah auf seine eigenen, noch ungeschickten Hände und fühlte darin die Möglichkeit vorgebildet, späterhin ebenso wie der Großvater Messer und Gabel zu halten und zu bewegen.

      Eine andere Frage war, ob er je dazu gelangen würde, sein Kinn in einer solchen Binde zu bergen, wie sie die geräumige Öffnung des sonderbar geformten, mit den scharfen Spitzen die Wangen streifenden Halskragens des Großvaters ausfüllte. Denn dazu mußte man so alt sein wie dieser, und schon heute trug au-ßer ihm und seinem alten Fiete weit und breit niemand mehr solche Binden und Kragen. Das war schade, denn dem kleinen Hans Castorp gefiel es besonders wohl, wie der Großvater das Kinn in die hohe, schneeweiße Binde lehnte; noch in der Erin-nerung, als er erwachsen war, gefiel es ihm ausgezeichnet: es lag etwas darin, was er aus dem Grund seines Wesens billigte.

      Wenn sie fertig gegessen und ihre Servietten zusammengelegt, gerollt und in die silbernen Ringe gesteckt hatten, ein Ge-schäft, mit dem Hans Castorp damals nicht leicht zu Rande kam, da die Servietten so groß waren wie kleine Tischtücher, so stand der Senator von dem Stuhle auf, den Fiete hinter ihm wegzog, und ging mit schlürfenden Schritten ins "Kabinett" hinüber, um sich seine Zigarre zu holen; und zuweilen folgte der Enkel ihm dorthin.

      Dieses "Kabinett" war dadurch entstanden, daß man das Eß-zimmer dreifenstrig gemacht und durch die ganze Breite des Hauses gelegt hatte, weshalb nicht, wie sonst bei diesem Haus-typus, Raum für drei Salons, sondern nur für zwei übriggeblieben war, von denen jedoch der eine, senkrecht zum Eßsaal gele-gene, mit nur einem Fenster nach der Straße, unverhältnismäßig tief ausgefallen wäre. Darum hatte man etwa den vierten Teil seiner Länge von ihm abgesondert, eben das "Kabinett", einen schmalen Raum mit Oberlicht, dämmerig und nur mit wenigen Gegenständen ausgestattet: einer Etagere, auf der des Senators Zigarrenschrank stand, einem Spieltisch, dessen Schublade an-ziehende Dinge enthielt: Whistkarten, Spielmarken, kleine Markierbrettchen mit aufklappbaren Zähnchen, eine Schieferta-fel nebst Kreidegriffeln, papierne Zigarrenspitzen und anderes mehr; endlich mit einem Rokoko-Glasschrank aus Palisander-holz in der Ecke, hinter dessen Scheiben gelbseidene Vorhänge gespannt waren.

      "Großpapa", konnte der kleine Hans Castorp im Kabinett wohl sagen, indem er sich auf die Zehenspitzen erhob und zu dem Ohr des Alten emporstrebte, "zeig' mir doch, bitte, die Taufschale!"

      Und der Großvater, der ohnedies den Schoß seines langen und weichen Gehrocks vom Beinkleid zurückgerafft und sein Schlüsselbund aus der Tasche gezogen hatte, öffnete damit den Glasschrank, aus dessen Innerem es dem Knaben eigentümlich angenehm und merkwürdig entgegenduftete. Es waren allerlei außer Gebrauch befindliche und eben darum fesselnde Gegen-stände darin aufbewahrt: ein Paar geschweifte silberne Arm-leuchter, ein zerbrochenes Barometer mit figürlicher Holz-schnitzerei, ein Album mit Daguerreotypien, ein Likörkasten aus Zedernholz, ein kleiner Türke, hart anzufassen unter seinem buntseidenen Anzug, mit einem Uhrwerk im Leibe, das ihn dereinst befähigt hatte, über den Tisch zu laufen, nun aber schon lange den Dienst versagte, ein altertümliches Schiffsmodell und ganz zu unterst sogar eine Rattenfalle. Der Alte aber nahm von einem mittleren Fach eine stark angelaufene runde silberne Schale, die auf einem ebenfalls silbernen Teller stand, und wies beide Stücke dem Knaben vor, indem er sie voneinander nahm und unter schon oft gegebenen Erklärungen einzeln hin und her bewegte.

      Becken und Teller gehörten ursprünglich nicht zueinander, wie man wohl sah, und wie sich der Kleine aufs neue belehren ließ; doch seien sie, sagte der Großvater, seit rund hundert Jah-ren, nämlich seit Anschaffung des Beckens, im Gebrauche verei-nigt. Die Schale war schön, von einfacher, edler Gestalt, ge-formt von dem strengen Geschmack der Frühzeit des letzten Jahrhunderts. Glatt und gediegen, ruhte sie auf rundem Fuße und war innen vergoldet; doch war das Gold von der Zeit schon zum gelblichen Schimmer verblichen. Als einziger Zierat lief ein erhabener Kranz von Rosen und zackigen Blättern um ihren oberen Rand. Den Teller angehend, so war sein weit hö-heres Alter ihm von der Innenseite abzulesen. "Sechzehnhun-dertundfünfzig" stand dort in verschnörkelten Ziffern, und allerlei krause Gravierungen umrahmten die Zahl, ausgeführt in der "modernen Manier" von damals, schwülstig-willkürlich, Wappen und Arabesken, die halb Stern und halb Blume waren. Auf der Rückseite aber fanden sich in wechselnder Schriftart die Namen der Häupter einpunktiert, die im Gange der Zeit des Stückes Inhaber gewesen: Es waren ihrer schon sieben, versehen mit der Jahreszahl der Erb-Übernahme, und der Alte in der Binde wies mit dem beringten Zeigefinger den Enkel auf jeden einzelnen hin. Der Name des Vaters war da, der des Großvaters selbst und der des Urgroßvaters, und dann verdoppelte, verdreifachte und vervierfachte sich die Vorsilbe "Ur" im Munde des Erklärers, und der Junge lauschte seitwärts geneigten Kopfes, mit nachdenklich oder auch gedankenlos-träumerisch sich fest-sehenden Augen und andächtig-schläfrigem Munde auf das Ur-Ur-Ur-Ur, – diesen dunklen Laut der Gruft und der Zeitver-schüttung, welche dennoch zugleich einen fromm gewahrten Zusammenhang zwischen der Gegenwart, seinem eigenen Le-ben und dem tief Versunkenen ausdrückte und ganz eigentüm-lich auf ihn einwirkte: nämlich so, wie es auf seinem Gesichte sich ausdrückte. Er meinte modrig-kühle Luft, die Luft der Ka-tharinenkirche oder der Michaeliskrypte zu atmen bei diesem Laut, den Anhauch von Orten zu spüren, an denen man, den Hut in der Hand, in eine gewisse, ehrerbietig vorwärts wiegen-de Gangart ohne Benutzung der Stiefelabsätze verfällt; auch die abgeschiedene, gefriedete Stille solcher hallender Orte glaubte er zu hören; geistliche Empfindungen mischten sich mit denen des Todes und der Geschichte beim Klang der dumpfen Silbe, und dies alles mutete den Knaben irgendwie wohltuend an, ja, es mochte wohl sein, daß er um des Lautes willen, um ihn zu hören und nachzusprechen, gebeten hatte, die Taufschale wieder einmal betrachten zu dürfen.

      Dann stellte der Großvater das Gefäß auf den Teller zurück und ließ den Kleinen in die glatte, leicht goldige Höhlung se-hen, die aufschimmerte von dem einfallenden Oberlicht.

      "Nun sind es bald acht Jahre", sagte er, "daß wir dich darüber hielten und daß das Wasser, mit dem du getauft wurdest, da hinein floß … Küster Lassen von St. Jacobi goß es unserem gu-ten Pastor Bugenhagen in die hohle Hand, und von da lief es über deinen Schopf hier in die Schale. Aber wir hatten es ge-wärmt, damit du nicht erschrecken und nicht weinen solltest, und das tatst du auch nicht, sondern im Gegenteil, du hattest vorher geschrien, so daß Bugenhagen es nicht leicht gehabt hatte mit seiner Rede, aber als das Wasser kam, da wurdest du still, und das war die Achtung vor dem heiligen

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