Der Zauberberg. Volume 1. Томас Манн
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Hans Castorp hatte den Großvater zu Anfang von dessen letzter Krankheit wohl mehrmals, gegen das Ende hin aber nicht mehr gesehen. Mit dem Anblick des Kampfes, der auch zu seinem Hauptteile nächtlicherweile vor sich gegangen war, hatte man ihn gänzlich verschont, nur mittelbar, durch die beklom-mene Atmosphäre des Hauses, die roten Augen des alten Fiete, das An – und Wegfahren der Doktoren, war er davon berührt worden; das Ergebnis aber, vor das er sich im Saale gestellt fand, ließ sich dahin zusammenfassen, daß der Großvater der Interimsanpassung nun feierlich überhoben und in seine eigentliche und angemessene Gestalt endgültig eingekehrt war, – ein billigenswertes Ergebnis, wenn auch der alte Fiete weinte und ununterbrochen den Kopf schüttelte, und wenn auch Hans Castorp selber weinte, wie er beim Anblick seiner unvermittelt ge-storbenen Mutter und seines bald darauf ebenfalls still und fremd daliegenden Vaters geweint hatte.
Denn es war ja nun schon das drittemal binnen so kurzer Zeit und bei so jungen Jahren, daß der Tod auf den Geist und die Sinne – namentlich auch auf die Sinne – des kleinen Hans Castorp wirkte; neu war ihm der Anblick und Eindruck nicht mehr, sondern bereits recht wohl vertraut, und wie er schon die beiden ersten Male sich durchaus gesetzt und verläßlich, keines-wegs nervenschwach, wenn auch mit natürlicher Betrübnis da-gegen verhalten hatte, so auch jetzt, und in noch höherem Grade. Unkundig der praktischen Bedeutung der Ereignisse für sein Leben oder auch kindlich gleichgültig dagegen, in dem Vertrau-en, daß die Welt schon so oder so für ihn sorgen werde, hatte er an den Särgen eine gewisse ebenfalls kindliche Kühle und sach-liche Aufmerksamkeit an den Tag gelegt, welche beim dritten-mal durch das Gefühl und den Ausdruck erfahrener Kenner-schaft noch eine besondere, altkluge Abschattung erhielt, – häu-figer Tränen der Erschütterung und der Ansteckung durch ande-re als einer selbstverständlichen Rückwirkung nicht weiter zu gedenken. In den drei oder vier Monaten, seit sein Vater gestorben war, hatte er den Tod vergessen, nun erinnerte er sich, und alle Eindrücke von damals stellten sich genau, gleichzeitig und durchdringend in ihrer unvergleichbaren Eigentümlichkeit wie-der her.
Aufgelöst und in Worte gefaßt, hätten sie sich ungefähr fol-gendermaßen ausgenommen. Es hatte mit dem Tode eine from-me, sinnige und traurig schöne, das heißt geistliche Bewandtnis und zugleich eine ganz andere, geradezu gegenteilige, sehr kör-perliche, sehr materielle, die man weder als schön, noch als sin-nig, noch als fromm, noch auch nur als traurig eigentlich an-sprechen konnte. Die feierlich-geistliche Bewandtnis drückte sich aus in der pomphaften Aufbahrung der Leiche, der Blu-menpracht und den Palmenwedeln, die bekanntlich den himm-lischen Frieden bedeuteten; ferner und noch deutlicher in dem Kreuz zwischen den gestorbenen Fingern des ehemaligen Groß-vaters, dem segnenden Heiland von Thorwaldsen, der zu Häup-ten des Sarges stand, und in den zu beiden Seiten aufragenden Kandelabern, die bei dieser Gelegenheit ebenfalls einen kirchli-chen Charakter angenommen hatten. Alle diese Anstalten hatten ihren genaueren und guten Sinn offenbar in dem Gedanken, daß der Großvater nun auf immer zu seiner eigentlichen und wahren Gestalt eingegangen war. Außerdem aber hatten sie, wie der kleine Hans Castorp wohl bemerkte, wenn auch nicht mit Worten sich eingestand, allesamt, im besonderen aber die Men-ge der Blumen und unter diesen wieder besonders die vielfach vertretenen Tuberosen, noch einen weiteren Sinn und nüchter-nen Zweck, nämlich den, die andere, weder schöne, noch eigentlich traurige, sondern eher fast unanständige, niedrig kör-perliche Bewandtnis, die es mit dem Tode hatte, zu beschöni-gen, in Vergessenheit zu bringen oder nicht zum Bewußtsein kommen zu lassen.
Mit dieser Bewandtnis hing es zusammen, daß der tote Großvater so fremd, ja eigentlich nicht als der Großvater, sondern als eine lebensgroße, wächserne Puppe erschien, die der Tod statt seiner Person eingeschoben hatte, und mit der nun all dieser fromme und ehrenvolle Aufwand getrieben wurde. Der da lag, oder richtiger: was da lag, war also nicht der Großvater selbst, sondern eine Hülle, – die, wie Hans Castorp wußte, nicht aus Wachs bestand, sondern aus ihrem eigenen Stoff; nur aus Stoff: das eben war das Unanständige und kaum auch Traurige, traurig so wenig, wie Dinge traurig sind, die mit dem Körper zu tun haben und nur mit diesem. Der kleine Hans Castorp be-trachtete den wachsgelben, glatten und käsig-festen Stoff, aus dem die lebensgroße Todesfigur bestand, das Gesicht und die Hände des ehemaligen Großvaters. Eben ließ eine Fliege sich auf die unbewegliche Stirne nieder und begann, ihren Rüssel auf und ab zu bewegen. Der alte Fiete verscheuchte sie vorsich-tig, indem er sich hütete, die Stirn dabei zu berühren, und mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene, so, als dürfe und wolle er von dem, was er da tat, nichts wissen, – einem Aus-druck von Sittsamkeit, der sich offenbar auf die Tatsache bezog, daß der Großvater nur noch Körper und nichts weiter mehr war; allein nach schweifendem Auffluge nahm die Fliege auf den Fingern des Großvaters, in der Nähe des Elfenbeinkreuzes, kurz aufsitzend wieder Platz. Während aber dies geschah, glaub-te Hans Castorp deutlicher als bisher jene von früher her ver-haute leise, aber so ganz eigentümlich zähe Ausdünstung zu verspüren, die ihn beschämenderweise an einen mit einem lästi-gen Übel behafteten und darum allerseits gemiedenen Schulka-meraden erinnerte, und die zu übertäuben der Duft der Tuberosen unter der Hand bestimmt war, ohne es bei aller schönen Üppigkeit und Strenge imstande zu sein.
Er stand wiederholt an der Leiche: einmal allein mit dem allen Fiete, das zweitemal zusammen mit seinem Großonkel Tienappel, dem Weinhändler, und den beiden Onkeln James und Peter, und dann noch ein drittes Mal, als eine Gruppe von sonntäglich gekleideten Hafenarbeitern einige Augenblicke am offenen Sarge stand, um sich von dem ehemaligen Chef des Hauses Castorp und Sohn zu verabschieden. Dann kam das Be-gräbnis, bei dem der Saal voller Leute war und Pastor Bugenha-gen von der Michaeliskirche, derselbe, der Hans Castorp getauft hatte, angetan mit der spanischen Halskrause, die Gedächtnis-rede hielt und sich nachher in der Droschke, der ersten gleich hinter dem Leichenwagen, der dann eine lange, lange Reihe folgte, sehr freundlich mit dem kleinen Hans Castorp unter-hielt, – und dann war auch dieser Lebensabschnitt zu Ende, und Hans Castorp wechselte gleich darauf Haus und Umgebung, zum zweitenmal tat er das ja bereits in seinem jungen Leben.
Bei Tienappels und Von Hans Castorps sittlichem Befinden
Zu seinem Schaden geschah es nicht, denn er kam zu Konsul Tienappel ins Haus, seinem bestellten Vormund, und hatte da nichts zu vermissen: in Hinsicht auf seine Person gewiß nicht, und ebensowenig, was die Betreuung seiner weiteren Interessen betraf, von denen er noch nichts wußte. Denn Konsul Tienappel, ein Onkel von Hansens seliger Mutter, verwaltete die Ca-storpsche Hinterlassenschaft, er brachte die Immobilien zum Verkauf, nahm auch die Liquidation der Firma Castorp und Sohn, Import und Export, in die Hand, und was er herausschlug, waren noch ungefähr vierhunderttausend Mark, Hans Castorps Erbe, das Konsul Tienappel in mündelsicheren Papieren anlegte, indem er, seiner verwandtschaftlichen Gefühle unbeschadet, an jedem Quartalsbeginn zwei Prozent Provision von den fälligen Zinsen für sich in Abzug brachte.
Das Tienappelsche Haus lag im Hintergrunde eines Gartens am Harvestehuder Weg und blickte auf eine Rasenfläche, in der auch nicht das kleinste Unkraut geduldet wurde, auf öffentliche Rosenanlagen und dann auf den Fluß. Der Konsul ging jeden Morgen, obgleich er ein schönes Fuhrwerk besaß, zu Fuß in sein Geschäft in der Altstadt, um doch ein bißchen Bewegung zu ha-ben, denn manchmal litt er an Blutstauungen im Kopfe, und kehrte um fünf Uhr abends auch so zurück, worauf bei Tienappels mit aller Kultur zu Mittag gegessen wurde. Er war ein ge-wichtiger Mann, in beste englische Stoffe gekleidet, mit wasser-blau