Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский

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Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский Russische moderne Prosa

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mal im Arbeiterwohnheim verbracht, mal am Bahnhof oder im Kloster, das gerade renoviert wurde. Die Tante kam und weinte sich bei ihnen aus: Sie hatte keine Kinder bekommen, und nach acht Jahren des Wartens war ihr Mann nun unerbittlich.

      Die Mutter klapperte die Schulen und Kindergärten ab, aber ohne polizeiliche Anmeldung[39] bekam sie nirgendwo eine Arbeit. Sie wollte schon zurück nach Aserbaidschan. Da herrschte zwar auch Finsternis, aber die eigene, vertraute, man könnte sogar sagen: sonnige. Und da war das Meer. Am Meer ist alles leichter.

      Dann startete das Sozialamt endlich ein Programm für Flüchtlinge, und sie zogen in eine Kommunalwohnung.

      Obwohl Nadja eine Ausbildung am Technikum gemacht hatte, wollte sie niemand. Ihr Gesicht, das noch die Spuren der Schwachsinnigkeit trug, die die Mutter mit unmenschlicher Kraftanstrengung besiegt hatte, sicherte ihr bereits an der Türschwelle den Ruf der Bekloppten.

      In der Wohnung lebten noch zwei weitere Parteien. Direkt neben ihnen hauste eine leise, pingelige Oma mit Papageien, die oft durch die ganze Wohnung flatterten, und einem Raben, der aus ihrem Zimmer stolziert kam, Jaschka hieß und so groß war wie ein Huhn. Die Alte erschien regelmäßig bei ihnen zu Kontrollbesuchen:

      »Pardon, sind meine Vögel vielleicht bei Ihnen?«

      Der Rabe konnte sprechen. Er hüpfte in der Küche aufs Fensterbrett, pickte auf die Geranie ein und krächzte: »Seid bereit! Immer bereit!«

      Das andere Zimmer bewohnten zwei Alte, die täglich laut darüber stritten, ob ihr Sohn sie heute besuchen würde oder nicht. Manchmal hatten ihre Dispute wahre Sprengkraft. War in ihrem Zimmer wieder Ruhe eingekehrt, rollten polternd leere Flaschen über den Fußboden.

      Die Mutter erlitt einen Schlaganfall[40], sie war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und verschied.

      Vor ihrem Tod wurde sie unruhig. Sie rief ihre Cousine zu sich (Nadja war heulend, mit offener Jacke durch den Schnee gerannt, um sie zu holen), küsste ihr langsam die Hände und bat sie, sich um ihre Tochter zu kümmern.

      Die Cousine jammerte, weinte und ging schnell wieder. Die Mutter trocknete sich die Tränen und gab ihrer Tochter zwei Tage lang Anweisungen:

      »Lass dich nicht gehen! Dann gehts nur bergab.«

      »Rechne! Rechnen ist wichtig. Weißt du noch, was ich dir mal über Pythagoras vorgelesen habe? Er hat auch die ganze Zeit gerechnet.«

      »Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«

      Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.

      Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.

      Aus den starren Augen flossen Tränen.

      Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

      XXII

      Sie hatten in der Presnja ein paar regelmäßige Beschäftigungen. Unter anderem sahen sie bei der provisorischen Gedenkstätte für die Toten des Oktoberaufstandes nach dem Rechten[41].

      Das kam so. Einmal im Frühling, am Totensamstag, hatten sie sich seit dem frühen Morgen auf dem Wagankowo-Friedhof herumgetrieben. Wadja war von Zeit zu Zeit zum Armenischen Friedhof auf der anderen Straßenseite gelaufen, in der Hoffnung, auch dort irgendeinen Handlangerdienst zu ergattern. Gegen Mittag brach Nadja ein paar Birkenzweige und schlich sich damit zu den verlassenen Gräbern. Sie fegte mit den Zweigen das Laub vom Vorjahr weg, riss das vertrocknete Unkraut aus, ging, mit verschämtem Gesicht leise vor sich hin flüsternd, zu den üppig geschmückten Gräbern und holte von dort Pralinen, Gebäck, Eier und künstliche Blumen.

      Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.

      »He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.

      Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.

      Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.

      Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:

      »Sachla*, Schluss jetzt! Sachla!« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.

      Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.

      Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.

      Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.

      Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.

      Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.

      XXIII

      Nadja konnte sich nur an unbedeutende Dinge gut erinnern. Sie wusste beispielsweise noch genau – sie brauchte nur die Augen zu schließen – wie das Brillenetui ihrer Mutter innen gerochen hatte: Es war der gleiche herrliche Geruch nach gegerbtem Wildleder wie in dem Sportgeschäft in ihrer frühesten Kindheit, in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. Sie waren in der sengenden Hitze zum Uferpark gelaufen (aufreizender Jodduft des blutheißen Meeres, schwerer Harzgeruch der von der Sonne aufgeheizten Zypressen). Nach der glühenden Straße, auf der der Asphalt klebrig-zäh unter den Sohlen nachgegeben hatte, war das Geschäft eine selige Wohltat, angefangen mit der Kühle und eben diesem erregenden Geruch. Später spazierten sie gebannt durch die beiden betörenden Verkaufsräume voller Sportartikel: Da gab es einen Billardtisch, eine Tischtennisplatte, einen Boxsack, einen Korb voller Seilknäuel und schließlich eine Box mit steil abfallenden Seiten und bordeauxrotem Samtbezug, an dem, wie bei einer Vogelscheuche, Tuchärmel herabhingen (wie die Ärmelschoner eines Buchhalters ohne Kopf), die an den Bündchen von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Es war eine Box, in der man blind Filme bearbeiten konnte. Besonders faszinierend

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<p>39</p>

die polizeiliche Anmeldung (юр.) – прописка, ргистрация в полиции по месту жительства

<p>40</p>

einen Schlaganfall erleiden (мед.) – перенести (апоплексический) удар

<p>41</p>

nach dem Rechten sehen – следить за порядком