Учимся рисовать. В. Г. Дмитриева
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Nichts ist wie früher, hätte er ihr am liebsten ins Gesicht geschrien, und nie wieder wird es so sein. Er machte sich nichts vor: Die Neugier einstiger Tage, einander zu erforschen, die Unbeschwertheit und Bedingungslosigkeit ihrer gegenseitigen Hingabe, die Bodenlosigkeit ihrer Leidenschaft, das alles war den Routinen des Alltags und den ungleich verteilten Machtverhältnissen ihrer Beziehung gewichen. Er war ein Gefangener, dessen Gedanken nur noch darum kreisten, sich zu befreien.
Er behielt seine Gedanken für sich. Stattdessen grub er, wenn Nadja und er beieinander lagen, sein Gesicht in ihre Halsbeuge und wunderte sich über den betörenden Geruch ihrer noch immer jugendlich frischen Haut und darüber, weshalb er keine Liebe mehr für sie empfinden konnte, obwohl sie ihn einst mit ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen und den sinnlich geschwungenen Lippen bis in seine frivolsten Träume verfolgt hatte.
Die Träume kehrten nicht wieder, und Erik wurde von Tag zu Tag klarer, dass er sich vor einer Entscheidung nicht mehr länger drücken konnte. Er hatte Romys Aufforderung befolgt, seiner Beziehung zu Nadja eine Chance zu geben, doch seine behutsamen Versuche, mit ihr über seine Gefühle zu sprechen, waren gescheitert. Sie hatte ihm ungeduldig zugehört und die Stirn gerunzelt. „Was genau passt dir denn nicht? Brauchst du mehr Geld? Hast du Wünsche, über die du nicht sprechen kannst? Vielleicht ein Auto, oder was stellst du dir vor?“
„Es geht nicht ums Geld, Nadja, es geht um mich. Ich komme mir nutzlos vor.“
„Du bist doch nicht nutzlos. Du hältst mir den Rücken frei, machst den Haushalt, gehst einkaufen, kochst und putzt. Ohne dich käme ich überhaupt nicht zurecht.“
Erik seufzte: „Versteh mich doch. Ich komme mir vor als … als sei ich kein richtiger Mann.“
Sie lächelte kokett und fuhr mit der Hand über seinen Oberschenkel. „Was für ein Unsinn! Du bist ein Mann, das kann ich dir schriftlich geben.“
Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, bevor ihre Berührung zu intim werden konnte. „Es ist mir ernst, Nadja“, erwiderte er barsch. „Ich will nicht den Rest meines Lebens als Hausmann verbringen.“
Verärgert zog sie ihre Hand von ihm zurück. „Willst du etwa gar nichts tun, während ich mich Tag für Tag im Büro abrackere? Es läuft doch bestens, so wie es ist.“
„Für dich läuft es bestens, Nadja, aber nicht für mich.“
„Dann mal Klartext: Was genau willst du?“
„Arbeiten. Eigenes Geld verdienen. Aber dann kann ich den Haushalt nicht mehr allein machen. Du müsstest einen Teil übernehmen.“
Nadja lächelte nachsichtig und schlug einen überlegenen Ton an: „Vergiss es! Du hast dein Studium abgebrochen, keinen Beruf gelernt und auch sonst keine praktische Erfahrung. Ich sehe nicht ein, dass ich mich wegen einer Laune von dir mit Hausarbeit belasten soll, damit du in einer Tankstelle oder als Taxifahrer ein paar lumpige Kröten zusammenkratzen kannst, die den Bock nicht fettmachen.“
„Warum kannst du nicht begreifen, dass es mir nicht allein ums Geld geht, sondern …“
Zornig fiel sie ihm ins Wort. „Weil du ein unvernünftiger, undankbarer Egoist bist, der in Problemen herumstochert, die gar nicht vorhanden sind.“
An diesem Punkt hatte Erik erkannt, dass jedes weitere Wort zwecklos gewesen wäre. Nadja hatte sich in ihrer Welt eingerichtet, einer Welt, in der sie die Macht in Händen hielt und nicht bereit war, von ihrem Terrain auch nur einen Quadratzentimeter abzutreten. Sie hatte seine Argumente, die er sich zurechtgelegt hatte, um ihr Verständnis zu gewinnen und ihre Beziehung in ein neues Fahrwasser zu lenken, von vornherein abgebügelt, so dass ihm keine andere Wahl blieb, als ohne sie und gegen ihren Willen zu handeln. Wenn ihm daran gelegen war, eigenständig zu werden, anstatt in Mutlosigkeit zu verfallen und sich aufzugeben, durfte er nicht mehr länger warten, sondern musste die Idee, die ihm in jener einsam verbrachten Nacht im Zarenhof zugeflogen war, in die Tat umsetzen. Wenn sein Plan funktionierte, könnte er ihm zu einer Beschäftigung verhelfen, von der sich leidlich leben ließe. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe - das musste er um jeden Preis vermeiden, denn damit wäre kein guter Anfang gemacht. Nie wieder wollte er an eine Frau gebunden sein, der er nicht auf gleicher Augenhöhe gegenüberstand.
Sein Verlangen, Romy wiederzusehen, wuchs von Tag zu Tag. Da sie ihm ihre E‑Mail-Adresse und Telefonnummer nicht hatte geben wollen, schickte er ihr regelmäßig Briefe - keine Liebesbriefe, die sie als aufdringlich oder sogar albern hätte empfinden können, sondern Mitteilungen und Fragen unverfänglichen Inhalts, um mit ihr in Kontakt zu bleiben: Was sie so mache; ob sie vorhabe, in absehbarer Zeit wieder einmal im Raum Frankfurt zu sein, dann könne man sich auf einen Kaffee treffen; wie es ihrer Katze Lilly gehe. Auf jeden seiner unverbindlichen Plauderbriefe hoffte er, eine ebenso unverbindliche Antwort zu erhalten. Vergeblich, denn Romy schrieb kein einziges Mal zurück. Er forschte im Online-Telefonbuch nach ihrer Rufnummer, sowohl unter ihrem bürgerlichen Namen als auch unter ihrem Pseudonym, aber wie er befürchtet hatte, war sie nicht registriert. Also schrieb er ihr weiterhin Briefe.
Ihre Weigerung, ihm zu antworten, bestärkte ihn zusätzlich darin, aus seiner Idee so schnell wie möglich ein Konzept zu entwickeln, denn ginge sein Plan auf, könnte ihn nichts mehr daran hindern, nach Berlin aufzubrechen. An einem Montag, als Nadja sich auf den Weg ins Büro gemacht hatte, blieb er noch eine Weile am Frühstückstisch sitzen. Er schlug die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Samstag auf und blätterte, bis er die Karikatur von Greser & Lenz fand, die wie immer mit politisch unbequemen Aussagen provozierte. Bestimmt würde sie wieder Proteste von Lesern nach sich ziehen, die derartige Verstöße gegen die politische Korrektheit mit einer seriösen Tageszeitung wie der Frankfurter Allgemeinen nicht in Einklang zu bringen vermochten. Die Redaktion druckte diese Leserbriefe ab, hielt jedoch am Prinzip der Meinungsfreiheit und an dem Karikaturisten-Duo fest.
Erik liebte die Zeichnungen von Greser & Lenz, die sich im Gegensatz zu den üblichen, mit wenigen Strichen skizzierten Karikaturen üppig in Details ergingen und viele versteckte Botschaften enthielten. Vor Jahren hatte er, als Ausgleich zu seinem Studium, einen Zeichenlehrgang gemacht, weil er schon in seiner Gymnasialzeit gerne gezeichnet und eine Vorliebe für Karikaturen entwickelt hatte. Es war ihm sogar gelungen, ein wenig seinen eigenen Stil zu entwickeln. Doch nachdem er das Studium aufgegeben und als Hausmann seine täglichen Pflichten zu erfüllen hatte, ließ er sein Hobby erst schleifen und, seit er mit Nadja in Hanau lebte, ganz einschlafen. Dabei hätte er jede Menge Zeit gehabt, es zu pflegen und seine Fähigkeiten zu perfektionieren.
Jetzt begann er mit sich zu hadern, dass er das Potenzial, das in ihm schlummerte, nicht schon eher wachgerüttelt hatte. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete den Karton, der als einziger seit dem Umzug nach Hanau noch verschlossen in einer Ecke stand, und kramte die vernachlässigten Dinge heraus: ein Tagebuch mit mehr leeren als beschriebenen Seiten, ein altes Fotoalbum, einen Tuschekasten, eine Blechschachtel mit Pinseln, ein paar Spitzerdosen, ein Ledermäppchen mit Bleistiften, Buntstiften und Radierern. Schließlich ein Comic-Zeichenlehrbuch, noch mehr Bleistifte unterschiedlicher Stärke, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden, eine weitere Blechschachtel mit Kohlestiften und vom Boden des Kartons einen Zeichenblock und einen Stapel Blätter mit Skizzen.
Erik huschte ein Lächeln über die Lippen, als er die einzelnen Zeichnungen betrachtete und Erinnerungen an seine Studienzeit in ihm aufstiegen. Er nahm den Zeichenblock und die Bleistifte, setzte sich damit an den Küchentisch