Herz und Wissen. Уилки Коллинз
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Bevor auch Mr. Le Frank ging, erzeigte er der Gouvernante das Compliment, noch einmal auf ihren Bericht über die Vorfälle im Concerte zurückzukommen.
»Was Sie mir über Mr. Ovid Vere sagten, überraschte mich höchlich«, sagte er. »Wir haben ihn vielleicht falsch beurtheilt, als wir dachten, daß er sich nichts aus Musik mache. Glauben Sie, daß etwas Unpassendes dabei wäre, wenn ich ihm meinen Dank ausspräche? Vielleicht wäre es am besten, ich schriebe und legte zwei Billets zu dem Concerte meines Freundes bei. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, habe ich es auf mich genommen eine gewisse Anzahl Billets unterzubringen. «Mein Freund ist so begehrt – es wäre Zuviel verlangt, wenn er umsonst singen sollte. Ich denke doch, ich schreibe – gute Nacht.«
Als Miß Minerva mit ihren Schülerinnen allein war, sah sie nach der Uhr. »Bereitet Euch auf Eure Stunden für morgen vor«, sagte sie, und die Mädchen holten ihre Bücher.
Maria’s Bücher waren in tadellosem Zustande, aber die Seiten, über denen Zo in unendlicher Verlegenheit brüten, waren von müden Fingern zerknittert und von zahllosen Thränen befleckt. O Wissen, vor dem unsere Stammeltern gnädig bewahrt waren, wer will die Sünden und Thorheiten zählen, die in Deinem Namen begangen sind!
Miß Minerva aber lehnte sich in ihren Lehnstuhl zurück und beschäftigte sich mit der mysteriösen Frage in Betreff der Anwesenheit Ovid’s bei dem Concerte. Die harten schwarzen Augen auf die Decke richtend, horchte sie auf etwaige Töne von oben, und dachte immer wieder bei sich: »Was sie jetzt wohl oben machen?«
Capitel VI
Mrs. Gallilee war ebenso gewandt in der Praxis »der Häuslichkeit als in der Theorie« der Akustik und Ohnmachtsanfälle. Wenn es sich darum handelte, sich geschmackvoll zu kleiden, Diners erfindungsreich anzuordnen, der Tafel mit Grazie zu präsidieren und die Gäste sich behaglich fühlen zu lassen, widerspenstige Domestiken zur Raison zu bringen und unehrliche Lieferanten zu entlarven, so suchte sie unter den am wenigsten intellectuellen Frauen ihres Gleichen. Die von ihr angeordneten Vorbereitungen für die Aufnahme ihrer Nichte waren schon vorher bis in’s kleinste Detail vollendet. Ein einladendes Schlafzimmer in Blau öffnete sich auf Carmina’s unwiderstehliches Wohnzimmer in Braun. Die Ventilation war in Ordnung, Licht und Schatten waren vertheilt und die Blumen unter Mrs. Gallilee’s unfehlbarer Aussicht reizvoll placirt. Ehe sich noch Carmina von ihrer Ohnmacht erholt, hatte sie schon eine zweite Mutter gefunden, die diese Rolle zur Vollkommenheit spielte.
Aber dennoch befanden sich die gegenwärtig in diesem reizenden Wohnzimmer anwesenden vier Personen einander gegenüber in unerträglicher Verlegenheit.
Nachdem Ovid kurz vorher erst seiner Mutter erklärt hatte, daß er Musik hasse, hatte dieselbe ihn in einem Concerte getroffen, wo er sich beeilt, einer ohnmächtig gewordenen jungen Dame Beistand zu leisten und zwar mit einer Aengstlichkeit und Besorgniß, als ob es sich um eine nahe, theure Freundin handele. Und dennoch hatte er, als es sich herausstellte, daß die Fremde eine Verwandte seiner Mutter sei, darüber ein nicht minder großes Erstaunen bekundet als Mrs. Gallilee selbst. Wie waren diese Widersprüche zu erklären?
Dabei trug Carmina’s Betragen dazu bei, die Sache noch mysteriöser zu machen. Weshalb ging dieselbe zu einem Concerte, anstatt ihre Tante aufzusuchen? Und wenn sie ohnmächtig wurde, während doch die Hitze im Saale sonst niemanden überwältigt hatte, warum hatte sie sich nicht in der gewöhnlichen Weise zu erholen vermocht? Da lag sie auf dem Sopha und wurde, wenn sie angeredet wurde, abwechselnd roth und blaß, fühlte sich unbehaglich in dem comfortablesten Hause Londons, scheu und verwirrt in der Obhut ihrer besten Freunde. Selbst wenn man einem sensitiven Temperamente alle Zugeständnisse machen wollte, konnten eine lange Reise von Italien nach England und das kindische Entsetzen beim Anblick des Ueberfahrens eines Hundes einen solchen Zustand allein erklären?
Aber trotz ihrer Verstimmung hierüber war Mrs. Gallilee eine viel zu kluge Frau, um Fragen zu stellen, die vielleicht in Zukunft Unannehmlichkeiten nach sich ziehen könnten; sie versuchte nur durch arglose Plaudereien sich ein wenig Licht zu verschaffen.
Die runzelige Duenna, die in größtem Unbehagen auf dem Atlasstuhle mit den gebrechlich zarten vergoldeten Beinen saß, schien von ihrer jungen Herrin auch den Gefühlston anzunehmen, genau so wie ihre Befehle. Vergeblich sprach Mrs. Gallilee erst Englisch und dann Französisch mit ihr; das eine Experiment mißlang ebenso wie das andere – die Alte schien sich zu fürchten, sie nur anzusehen.
Ovid selbst war ebenso schwierig zu ergründen. Er antwortete natürlich, wenn seine Mutter ihn anredete, aber immer kurz und in demselben abwesenden Tone; stellte selbst keine Fragen und ließ sich zu keinen Erklärungen herbei. Das Gefühl der Verlegenheit hatte bei ihm unerklärliche Veränderungen bewirkt. Die ruhige Milde, mit der er Carmina die nöthige Aufmerksamkeit erwies, zeigte ihn in einem ganz neuen Lichte; denn während sein Benehmen gegen Patienten, einerlei ob Frauen oder Männer, sonst gewöhnlich ein ziemlich abruptes war, da er bei seiner schnellen Fassungskraft den Leuten, wenn sie ihre Symptome beschrieben, die Worte aus dem Munde zu nehmen pflegte, saß er jetzt da und betrachtete seine blasse kleine Cousine mit einer wunderbar anzusehenden Aufmerksamkeit und Geduld und lauschte den ganz gewöhnlichen conventionellen Worten, die in Zwischenräumen über ihre Lippen kamen, als ob es bei seinem Gesundheitszustand und der damit verbundenen zweifelhaften Aussicht in die Zukunft kein ernsteres Interesse gäbe, das seinen Geist beschäftigen könnte.
Mrs. Gallilee konnte es nicht länger ertragen. Hätte sie nicht absichtlich ihre Phantasie verkommen lassen und jedes zärtlichere Gefühl, das ihr Herz einst empfunden haben mochte, aus diesem verwiesen, so würde das sonderbare Benehmen ihres Sohnes sie interessiert haben, anstatt sie zu verwirren. So aber ließ ihre wissenschaftliche Bildung sie bei Fragen, bei denen es sich um Empfinden handelte, so vollständig im Dunkeln, als ob sie ihre Erfahrungen von der Menschheit in ihrem Verhältniß zur Liebe auf den Cannibaleninseln gesammelt hätte. Sie entschied sich dafür, ihre Nichte zu verlassen, damit dieselbe sich ausruhen könne, und ihren Sohn mit aus dem Zimmer zu nehmen.
»Bei Deinem gegenwärtigen Gesundheitszustande Ovid«, begann sie, »darf Carmina Deinen ärztlichen Rath nicht annehmen.«
Etwas in diesen Worten fiel Ovid auf und er antwortete etwas heftig. »Du sprichst, als ob sie ernstlich krank wäre!«
Carmina’s anmuthiges Lächeln ließ ihn hier innehalten. »Wer weiß, was geschehen kann«, bemerkte sie scherzhaft.
»Das verhüte Gott!« erwiderte er mit solcher Wärme daß ihn alle Drei überrascht ansahen.
»Ovid ist so furchtbar überarbeitet, liebe Nichte«, sagte Mrs. Gallilee ruhig, »daß ich mich wirklich freue, daß er seine Praxis aufgegeben hat und morgen abreist. Wir wollen Dich jetzt mit Deiner alten Freundin allein lassen. Wenn Du etwas bedarfst, so klingele, bitte.« Dann warf sie Carmina eine Kußhand zu, winkte ihren Sohn und ging nach der Thür.
Teresa sah sie an und dann plötzlich wieder weg. Gallilee blieb bei einer Chiffoniere stehen und änderte etwas in dem Arrangement des Porzellans auf derselben. Die Duenna folgte ihr auf den Zehenspitzen und tupfte sie mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger auf den Rücken, aber so leise, daß sie es nicht merkte. Dann stahl die Alte sich wieder auf ihren Platz zurück und flüsterte auf Italienisch vor sich hin: »Der böse Blick.«
Weder Ovid noch seine Cousine hatten das Thun der Alten bemerkt. Ersterer erhob sich widerstrebend von seinem Platze an Carmina’s Seite, die ihn in dankbarer Empfänglichkeit