Kind in seinen Armen. Brennan Manning
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Jesus offenbart uns, welche Gefühle Gott für uns hegt. Wenn wir die Evangelien durchblättern, entdecken wir, dass wir selbst die Menschen sind, denen Jesus dort begegnet. Das Verständnis und das Mitgefühl, das er ihnen entgegenbringt, bietet er auch dir und mir an. Am zwanzigsten und letzten Tag in den Bergen von Colorado schrieb ich den folgenden Brief:
Guten Morgen, Schwindler.
Sicher überrascht dich diese freundliche Begrüßung. Wahrscheinlich hast du eher so etwas wie: »He, du kleiner Knilch« erwartet. Schließlich habe ich vom ersten Tag dieser Retraite an auf dich eingedroschen. Lass mich dir zunächst sagen, dass meine Einschätzung von dir unvernünftig, undankbar und unausgewogen war. (Natürlich ist dir klar, du Rauchwolke, dass ich mit mir selbst rede, wenn ich dich hier anspreche. Du bist kein isoliertes, unpersönliches Wesen auf einem anderen Stern, sondern ein ganz realer Teil meines eigenen Ichs.)
Wenn ich heute zu dir komme, dann nicht mit der Rute in der Hand, sondern mit einem Olivenzweig. Als ich noch ein kleiner Grünschnabel war und zum ersten Mal begriff, dass niemand für mich da war, hast du eingegriffen und mir gezeigt, wo ich mich verstecken kann. (In jenen Tagen der großen Depression in den dreißiger Jahren, du erinnerst dich, hatten meine Eltern alle Hände voll zu tun, um uns wenigstens genug zu essen und ein Dach über dem Kopf zu sichern.)
Damals warst du von unschätzbarem Wert. Ohne dein Eingreifen hätte mich das Grauen überwältigt und die Angst gelähmt. Du aber warst für mich da und hast für meine Entwicklung eine entscheidende Beschützerrolle gespielt. Vielen Dank.
Als ich vier Jahre war, hast du mir gezeigt, wie man eine Hütte baut. Erinnerst du dich noch an das Spiel? Ich kroch im Bett unter die Decke und zog Leintücher, Bettdecke und Kissen über mich – und glaubte wirklich, dass mich niemand finden würde. Dort fühlte ich mich sicher. Und ich staune heute noch, wie gut das funktionierte. Ich dachte mir schöne Dinge aus und musste unter der Decke grinsen oder sogar laut lachen. Wir haben diese Hütte zusammengebaut, weil die Welt, in der wir lebten, nicht besonders freundlich zu uns war.
Aber beim Bauen hast du mir auch beigebracht, wie ich mein wahres Ich vor Menschen verberge, und hast damit einen lebenslangen Prozess der Heimlichtuerei, der Zurückhaltung, des Rückzugs in Gang gesetzt. Dein Einfallsreichtum half mir zu überleben. Doch dann kam deine bösartige Seite zum Vorschein, und du fingst an mich anzulügen. »Brennan«, flüstertest du, »wenn du weiter so blöd bist und darauf bestehst, du selbst zu sein, dann werden deine geduldigen Freunde bald das Weite suchen und dich allein lassen. Unterdrück die Gefühle, schlag die Erinnerungen zu, halt deine Meinung zurück und lern gute Umgangsformen, damit du überall hinpasst.«
Und so begann das ausgeklügelte Spiel von Verstellung und Täuschung. Weil es funktionierte, erhob ich keine Einwände. Im Lauf der Jahre mussten du und ich von den verschiedensten Seiten Schläge einstecken. Das hat uns ermutigt und in dem Entschluss bestärkt, das Spiel fortzusetzen. Aber du brauchtest jemanden, der dich im Zaum hielt. Ich hatte weder die Kraft noch den Mut, dich zu zähmen, und so poltertest du weiter herum und kamst immer heftiger in Schwung. Dein Hunger nach Aufmerksamkeit und Bestätigung wurde unersättlich. Ich hielt dir die Lüge nie vor, weil ich mich selbst täuschen ließ.
Kurz gesagt, mein verzogener Spielkamerad, du bist ebenso bedürftig wie egoistisch. Du brauchst Zuwendung, Liebe und einen sicheren Aufenthaltsort. Mein Gedanke an dich an diesem letzten Tag in den Bergen besteht darin, dass ich dich dorthin bringe, wohin du dich, ohne es zu wissen, schon immer gesehnt hast – in die Gegenwart Jesu. Deine wilden Tage sind vorbei. Von jetzt an wirst du dich zurückhalten, sehr zurückhalten.
In seiner Gegenwart habe ich festgestellt, dass du schon angefangen hast zu schrumpfen. Willst du etwas wissen, kleiner Kerl? So siehst du viel netter aus. Ich habe dir schon einen Spitznamen gegeben – »Winzling«. Natürlich wirst du nicht einfach so zusammenklappen und sterben. Ich weiß, dass du manchmal unmutig sein und anfangen wirst, um dich zu schlagen. Aber je mehr Zeit du in der Nähe Jesu verbringst, desto mehr wirst du dich an sein Angesicht gewöhnen und desto weniger Lobhudelei wirst du brauchen, weil du selbst entdeckst, dass er genügt. Und in seiner Gegenwart wirst du voller Freude erkennen, was es heißt, aus der Gnade und nicht aus der Leistung zu leben.
Dein Freund Brennan.
3. Der Geliebte
Das wahre Ich finden
Eines Morgens saß ein Professor in der Cafeteria eines Colleges beim Frühstück. Da »setzte sich ein Student mit Bürstenschnitt in lockerer Freizeitkleidung hinter einen hohen Berg Pfannkuchen. Er war ein sehr methodischer Kollege. Nach einem Gebet, das fast eine Minute dauerte, zog er aus seiner Aktentasche einen Leseständer für seine Bibel hervor, ein paar Clips, um die Seiten festzuhalten, einen grünen, einen roten und einen gelben Filzstift, eine Plastikflasche mit flüssiger Margarine, eine in Plastik eingewickelte Flasche mit Ahornsirup, eine Leinenserviette und eines dieser Frischhaltetücher mit Zitronenduft. Das Ganze sah aus wie die Zirkusnummer, wo zwölf Männer aus einem Auto kriechen, das nicht größer ist als eine Konservendose … Ich dachte, als nächstes würde er noch eine Munddusche und die Arche Noah hervorholen.«31
Diese Skizze lässt uns einen Blick auf das wahre Ich werfen – unbefangen, anspruchslos, ganz dem Leben zugewandt, dem Augenblick hingegeben und so selbstverständlich die Nähe Gottes einatmend, wie ein Fisch im Wasser schwimmt.
Der Glaube ist kein abgetrennter, isolierter Bereich unseres Lebens. Er ist vielmehr ein Lebensstil: das Leben selbst unter dem Blickwinkel des Glaubens. Heiligung besteht darin, mein wahres Ich zu entdecken, mich auf es zuzubewegen und aus ihm heraus zu leben.
In den Jahren im Kloster begann Thomas Merton zu erkennen, dass die höchste geistliche Entwicklung darin besteht, »normal« zu sein, »völlig Mensch zu werden, in einer Art, wie es nur wenigen Menschen gelingt, so einfach und natürlich sie selbst zu sein … das Maß dessen, was auch andere sein könnten, wenn die Gesellschaft sie nicht durch Neid oder Ehrgeiz oder Gier oder verzweifeltes Verlangen verbiegen würde«.32
Der 1987 verstorbene John Eagan war ein ganz normaler Mann. Ein unspektakulärer Highschool-Lehrer aus Milwaukee, der sich mehr als dreißig Jahre in der Jugendarbeit engagierte. Er hat nie ein Buch geschrieben, ist nie im Fernsehen aufgetreten, hat keine Massen bekehrt und ist auch nie in den Ruf besonderer Heiligkeit gelangt. Er aß, schlief, trank, machte Fahrradtouren, wanderte durch die Wälder, unterrichtete und betete. Und er führte ein Tagebuch, das kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Es ist die Geschichte eines ganz normalen Mannes, dessen Herz von Jesus Christus gewonnen und ganz von ihm eingenommen war. In der Einleitung heißt es: »Im Kern geht es in Johns Tagebuch darum, dass wir dem Adel unserer Seele – und das bedeutet Heiligung – selbst das größte Hindernis sind. Wir betrachten uns als unwürdige Knechte, und dieses Urteil wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wir halten uns selbst für viel zu belanglos, um von einem Gott gebraucht zu werden, der selbst aus Dreck und Speichel Wunder wirken kann. Und so legt unsere falsche Demut einem ansonsten allmächtigen Gott Fesseln an.«33
Eagan, ein Mann mit herausragenden Schwächen und Charakterfehlern, hatte begriffen: Der Zerbruch gehört zum Wesen des Menschseins und wir müssen uns selbst vergeben, dass wir so unliebenswürdig, wankelmütig, unzulänglich, gereizt und dickbäuchig sind. Und er wusste, dass seine Sünden ihn nicht von Gott trennen konnten. Sie waren alle durch das Blut Jesu bezahlt. Voll Reue brachte er sein Schatten-Ich zum Kreuz und wagte es, aus der Vergebung zu leben. In Eagans Tagebuch hört man die Worte Mertons nachklingen: »Gott fordert mich, den Unwürdigen, auf, meine eigene und die Unwürdigkeit meiner