Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler

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zu gelangen. Jede unrichtige Lösung, sei es durch eine unzweckmäßige körperliche oder seelische Entwicklung, zeigt ihren Mangel an Eignung durch die Niederlage, die bis zur Ausmerzung und Austilgung des irrenden Individuums führen kann. Der Prozeß der Niederlage kann über die Einzel­personen hinausgreifen und Teilglieder derselben, die Nachkommen­schaft, schädigen, Familien, Stämme, Völker und Rassen in größere Schwierigkeiten verwickeln. Oft, wie immer in der Evolution, können diese Schwierigkeiten in ihrer Überwindung zu größeren Erfolgen, zu größerer Widerstandskraft führen. Hekatomben von Pflanzen, Tieren und Menschen sind aber diesem grausamen Selbstreinigungsprozeß zum Opfer gefallen. Was derzeit im Durchschnitt widerstandsfähig erscheint, hat die Probe vorläufig bestanden. Aus dieser Anschauung geht hervor, daß wir es im körperlichen Prozeß mit einem Streben zu tun haben, das den Körper in Beziehung zu seinen Leistungen ungefähr im Gleichgewicht zu halten hat, um den Anforderungen der Außenwelt, ihren Förderungen und Nachteilen, siegreich entgegentreten zu können. Betrachtet man diese Prozesse einseitig, so kommt man zu der Auffassung von der »Weisheit des Körpers«. Aber auch der seelische Prozeß ist gezwungen, sich zu dieser Weisheit zu entschließen, die ihn instand setzt, siegreich die Fragen der Außenwelt zugunsten eines stets aktiven Äquilibriums von Leib und Seele zu lösen. Für das Äquilibrium sorgt in gewissen Grenzen die erreichte evolutionäre Stufe, für die Aktivität das in der Kindheit gefundene Ziel der Überlegenheit, der Lebensstil, das Bewegungsgesetz des einzelnen.

      Grundgesetz des Lebens ist demnach Überwindung. Ihr dient das Streben nach Selbsterhaltung, nach körperlichem und seelischem Gleichgewicht, das körperliche und seelische Wachstum und das Streben nach Vollendung.

      Im Streben nach Selbsterhaltung ist eingeschlossen das Verständnis und die Vermeidung von Gefahren, die Fortpflanzung als evolutionäre Bahn zur Fortdauer eines leiblichen Anteils über den persönlichen Tod hinaus, die Mitarbeit an der Entwicklung der Menschheit, in der der Geist der Mitarbeiter unsterblich ist, und die vergesellschaftete Leistung aller Beitragenden zu allen den genannten Zwecken.

      Wie der Körper stets bestrebt ist, alle lebenswichtigen Teile gleichzeitig zu erhalten, zu ergänzen, zu ersetzen, zeigt das Wunderwerk der Evolution. Die Blutgerinnung anläßlich von blutenden Wunden, die in weiten Grenzen gewährleistete Erhaltung von Wasser, Zucker, Kalk, Eiweißstoffen, die Blut � und Zellregeneration, das Zusammenwirken der endokrinen Drüsen sind Produkte der Evolution und beweisen die Widerstandskraft des Organismus gegenüber den äußeren Schädlichkeiten. Die Erhaltung und Steigerung dieser Widerstandskraft ist die Folge einer weitgehenden Blutmischung, in der Mängel verkleinert, Vorteile festgehalten und vergrößert werden können. Auch hier hat die Vergesellschaftung der Menschen, die Gemeinschaft, helfend und siegreich durchgegriffen. Die Ausschaltung des Inzests war demnach kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit im Streben nach Gemeinschaft.

      Das seelische Gleichgewicht ist fortdauernd bedroht. Im Streben nach Vollendung ist der Mensch immer seelisch bewegt und fühlt seine Unausgeglichenheit gegenüber dem Ziele der Vollkommenheit. Einzig das Gefühl, eine zureichende Stelle im Streben nach aufwärts erreicht zu haben, vermag ihm das Gefühl der Ruhe, des Wertes, des Glückes zu geben. Im nächsten Augenblick zieht ihn sein Ziel wieder hinan. In diesem Augenblick wird es klar, daß Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt. Die Richtung der gesuchten Überwindung ist ebenso tausendfach verschieden wie das Ziel der gesuchten Vollkommenheit. Je größer das Minderwertigkeitsgefühl ist und erlebt wird, um so heftiger der Drang zur Überwindung, um so stärker die Bewegung der Gefühle. Der Ansturm der Gefühle aber, die Emotionen und Affekte bleiben nicht ohne Wirkung auf das körperliche Gleichgewicht. Der Körper gerät auf den Wegen des vegetativen Nervensystems, des Nervus vagus, der endokrinen Veränderungen in Bewegungen, die sich in Änderungen der Blutzirkulation, der Sekretionen, des Muskeltonus und fast aller Organe äußern können. Als vorübergehende Erscheinungen sind diese Veränderungen natürlich, zeigen sich nur verschieden in ihrer Ausgestaltung je nach dem Lebensstil des Befallenen. Dauern sie an, so spricht man von funktionellen Organneurosen, die, wie die Psychoneurosen, ihre Entstehung einem Lebensstil verdanken, der eine Neigung zeigt, im Falle eines Versagens, bei stärkerem Minderwertigkeitsgefühl, einen Rückzug vom vorliegenden Problem anzutreten und diesen Rückzug durch Festhaltung der entstandenen Schock-Symptome körperlicher oder seelischer Art zu sichern. So wirkt sich der seelische Prozeß auf den Körper aus. Aber auch im Seelischen selbst, indem er dort zu allen seelischen Fehlschlägen, zu Handlungen und Unterlassungen Anlaß gibt, die den Forderungen der Gemeinschaft feindlich sind.

      Desgleichen wirkt sich der körperliche Bestand auf den Seelenprozeß aus. Der Lebensstil wird nach unseren Erfahrungen in der frühesten Kindheit ausgestaltet. Der angeborene körperliche Bestand hat dabei den größten Einfluß. Das Kind erlebt in seinen anfänglichen Bewegungen und Leistungen die Validität seiner körperlichen Organe. Erlebt sie, hat aber noch lange weder Worte noch Begriffe dafür. Da auch das Entgegenkommen der Umgebung durchaus verschieden ist, bleibt dauernd unbekannt, was das Kind etwa von seiner Leistungsfähigkeit verspürt. Mit großer Vorsicht und im Besitz einer statistischen Wahrscheinlichkeitserfahrung ist der Schluß gestattet, aus unserer Kenntnis der Minderwertigkeit von Organen, des Verdauungsapparates, der Blutzirkulation, der Atmungsorgane, der Sekretionsorgane, der endokrinen Drüsen, der Sinnesorgane zu folgern, daß das Kind seine Überbürdung zu Beginn seines Lebens erlebt. Wie es aber damit fertig zu werden trachtet, kann man nicht anders als aus seinen Bewegungen und Versuchen ersehen. Denn hier ist jede kausale Betrachtung vergebens. Hier wirkt sich die schöpferische Kraft des Kindes aus. Strebend im unausrechenbaren Raum seiner Möglichkeiten ergibt sich dem Kinde aus Versuch und Irrtum ein Training und ein genereller Weg zu einem Ziel der Vollkommenheit, das ihm Erfüllung zu bieten scheint. Ob aktiv strebend oder in Passivität verharrend, ob herrschend oder dienend, ob kontaktfähig oder egoistisch, mutig oder feig, verschieden in Rhythmus und Temperament, ob leicht bewegbar oder stumpf � das Kind entscheidet im vermeintlichen Einklang mit seiner Umgebung, die es in seinem Sinne auffaßt und beantwortet, für sein ganzes Leben und entwickelt sein Bewegungs­gesetz. Und alle Richtungen nach einem Ziel der Überwindung sind anders für jedes Individuum und in tausend Nuancen verschieden, so daß uns die Worte fehlen, in jedem Falle mehr als das Typische zu benennen, und wir gezwungen sind, zu weitläufigen Beschreibungen unsere Zuflucht zu nehmen.

      Wohin sein Weg geht, kann das Individuum selbst ohne individual­psychologische Einsicht kaum je deutlich sagen. Oft sagt es das Gegenteil. Erst das erkannte Bewegungsgesetz gibt uns Aufschluß. Dabei stoßen wir auf den Sinn, auf die Meinung der Ausdrucksbewegungen, die Worte, Gedanken, Gefühle und Handlungen sein können. Wie sehr aber auch der Körper unter diesem Bewegungsgesetz steht, verrät der Sinn seiner Funktionen, eine Sprache, meist ausdrucksvoller, die Meinung deutlicher aufzeigend als Worte es vermögen, aber immerhin eine Sprache des Körpers, die ich Organdialekt genannt habe. Ein Kind zum Beispiel, das sich fügsam benimmt, aber des Nachts das Bett näßt, gibt dadurch deutlich seine Meinung kund, sich der angeordneten Kultur nicht fügen zu wollen. Ein Mann, der mutig zu sein vorgibt, vielleicht sogar an seinen Mut glaubt, zeigt doch durch sein Zittern und Herzklopfen, daß er aus dem Gleichgewicht gekommen ist.

      Eine 32jährige verheiratete Frau klagt über linksseitigen, heftigen Schmerz um das linke Auge herum und über Doppelsehen, das sie zwingt, das linke Auge geschlossen zu halten. Solche Anfälle hatte die Patientin seit elf Jahren; den ersten, als sie sich mit ihrem Manne verlobte. Der diesmalige Anfall kam vor sieben Monaten, die Schmerzen blieben zeitweilig aus, doch das Doppelsehen blieb konstant. Sie führt diesen letzten Anfall auf ein kaltes Bad zurück und glaubt die Erfahrung gemacht zu haben, daß Zugluft auch sonst die Anfälle hervorgerufen habe. Ein jüngerer Bruder leidet an ähnlichen Anfällen mit Doppelsehen, die Mutter an den Folgen einer Kopfgrippe. Die Schmerzen konnten in früheren Anfällen angeblich auch um das rechte Auge herum auftreten oder wechselten von einer Seite auf die andere.

      Vor ihrer Ehe unterrichtete sie Violinspielen, trat auch in Konzerten auf und liebte ihren Beruf, den sie seit ihrer Ehe aufgegeben hatte. Sie lebt derzeit, wie sie meint, um dem Arzt näher zu sein, in der Familie ihres Schwagers und fühlt sich da glücklich.

      Sie

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