Gesammelte Werke. Alfred Adler
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Feststellung nach genauer Untersuchung: Die linke Gesichtshälfte ist etwas kleiner als die rechte. Deshalb ist die Nasenspitze etwas nach links gerichtet. Das linke, derzeit erkrankte Auge zeigt eine engere Augenspalte als das rechte. Warum die Patientin auch gelegentlich auf der rechten Seite das Symptom zeigt, vermag ich derzeit nicht zu erklären. Vielleicht irrt die Patientin in dieser Angabe.
Ein Traum: »Ich war mit einer Schwägerin und einer älteren Schwester im Theater. Ich sagte ihnen, sie sollten ein bißchen warten, ich werde mich ihnen auf der Bühne zeigen.« Erklärung: Sie sucht sich immer vor ihren Verwandten hervorzutun. Möchte auch in einem Theaterorchester spielen. Glaubt, von ihren Verwandten nicht genug geschätzt zu werden. Auch die von mir begründete Organminderwertigkeitslehre mit seelischer Kompensation, ein Befund, der, wie einmal festgestellt werden soll, den Ergebnissen Kretschmers und Jaenschs zugrunde liegt, kommt zu ihrem Recht. Es ist kaum zu bezweifeln, daß im Sehapparat dieser Frau etwas nicht richtig ist. Auch bei ihrem an der gleichen Krankheit leidenden Bruder nicht. Ob es mehr ist als Gefäßanomalien oder Weganomalien, kann ich nicht entscheiden. Der Visus soll normal sein, ebenso der Grundumsatz. Die Schilddrüse ist äußerlich nicht verändert. Der Traum vom Theater und vom Sichzeigen auf der Bühne sprechen deutlich für einen visuellen, auf die äußere Erscheinung bedachten Menschentypus. Ihre Ehe, ihr Wohnort in der Provinz hindern sie, sich zu zeigen. Das gleiche Hindernis wäre Gravidität und ein Kind.
Die vollständige Heilung vollzog sich innerhalb eines Monats. Vorher kam die Erklärung des exogenen Faktors, der zur letzten Attacke geführt hatte. Sie fand in der Rocktasche ihres Mannes den Brief eines Mädchens, der nur einen kurzen Gruß enthielt. Ihr Mann konnte ihren Argwohn zerstreuen. Nichtsdestoweniger verblieb sie in argwöhnischer Stimmung und nährte die bisher nie gefühlte Eifersucht, überwachte auch ihren Mann seit dieser Zeit. In diese Periode fiel ihr kaltes Bad und der Beginn ihres Anfalls. Einer der letzten Träume, schon nach der Feststellung ihrer Eifersucht und ihrer verletzten Eitelkeit geträumt, zeigt noch das Festhalten an ihrem Verdacht und zielt auf Vorsicht und Mißtrauen dem Gatten gegenüber. Sie sah, wie eine Katze einen Fisch fing und mit ihm davonlief. Eine Frau lief hinterdrein, um der Katze den Fisch abzujagen. Die Erklärung ergibt sich, ohne daß man viel Wesens machen müßte. Sie sucht sich in metaphorischer Sprache, in der alles stärker klingt, für einen ähnlichen Raub ihres Gatten scharfzumachen. Eine Auseinandersetzung ergibt, daß sie nie eifersüchtig gewesen sei, da ihr Stolz ihr diese Unart verboten hatte, daß sie aber seit der Auffindung jenes Briefes die Möglichkeit einer Untreue ihres Mannes in Betracht gezogen habe. Indem sie damit rechnete, steigerte sich ihre Wut � gegen die vermeintliche Abhängigkeit der Frau vom Manne. Ihr kaltes Bad war demnach wirklich die Rache ihres Lebensstils gegenüber der nun, wie sie glaubte, sichergestellten Abhängigkeit ihres Wertes von ihrem Manne und gegenüber seiner mangelhaften Anerkennung ihres Wertes. Hätte sie ihren Migräneanfall � die Folge ihres Schocks � nicht, so müßte sie sich wertlos vorkommen. Dies aber wäre das Schrecklichste von allem.
5. Körperform, Bewegung und Charakter
Hier sollen die drei Erscheinungsformen, wie sie bei der Spezies Mensch sich zeigen, Körperform, Bewegung und Charakter, nach ihrem Wert und in bezug auf ihren Sinn besprochen werden. Eine wissenschaftliche Menschenkenntnis muß natürlich Erfahrungen zu ihrer Grundlage machen. Aber die Sammlung von Tatsachen ergibt noch keine Wissenschaft. Jene ist vielmehr die Vorstufe dieser, und das gesammelte Material bedarf einer zulänglichen Einreihung unter ein gemeinsames Prinzip. Daß die im Zorn erhobene Faust ebenso wie das Knirschen der Zähne, ein wutvoll geschleuderter Blick, laut ausgestoßene Verwünschungen usw. Bewegungen sind, die einem Angriff entsprechen, ist aber so sehr in den Common sense übergegangen, daß dem menschlichen Forschungsdrang, der Wahrheit näher zu kommen � was das Wesen der Wissenschaft ausmacht �, in diesem Bereich keine Aufgabe mehr gesetzt ist. Erst wenn es gelingt, diese und andere Manifestationen in einen größeren, bisher unentdeckten Zusammenhang zu bringen, wo sich neue Gesichtspunkte erschließen, bisherige Probleme gelöst erscheinen oder auftauchen, hat man das Recht, von Wissenschaft zu sprechen.
Die Form der menschlichen Organe sowie die äußere Form des Menschen steht in einem ungefähren Einklang mit seiner Lebensweise und verdankt ihr Grundschema dem Anpassungsprozeß an die für lange Zeitläufe stabilen äußeren Verhältnisse. Der Grad der Anpassung variiert millionenfach und wird in seiner Form erst auffällig, wenn eine gewisse, irgendwie merkliche Grenze überschritten ist. Auf diese Grundlage menschlicher Formentwicklung wirken freilich noch eine Anzahl von anderen Faktoren ein, von denen ich hervorheben will:
1. Den Untergang von bestimmten Varianten, für die vorübergehend oder dauernd keine Lebensmöglichkeiten bestehen. Hier greift nicht bloß das Gesetz der organischen Anpassung ein, sondern auch irrtümliche Formen der Lebensweisen, die größere oder kleinere Gruppenbestände übermäßig belastet haben (Krieg, schlechte Verwaltung, Mangel an sozialer Anpassung usw.). Wir werden demnach außer den starren Vererbungsgesetzen, etwa nach der Mendelschen Regel, auch noch eine Beeinflußbarkeit der Organ- und Formwertigkeit im Anpassungsprozeß zu berücksichtigen haben. Eine Beziehung der Form zu den individuellen und allgemeinen Belastungen wird sich als Funktionswert ausdrücken lassen.
2. Die sexuelle Auslese. Sie scheint infolge der wachsenden Kultur und des gesteigerten Verkehrs auf eine Angleichung der Form, des Typus, hinzuarbeiten und wird mehr oder weniger durch biologisches, medizinisches Verständnis sowie durch das damit zusammenhängende ästhetische Gefühl, wohl Wandlungen und Irrungen unterworfen, beeinflußt. Schönheitsideale wie der Athlet, der Hermaphrodit, Üppigkeit, Schlankheit zeigen den Wandel dieser Einflüsse, der sicherlich durch die Kunst namhaft angeregt wird.
3. Die Korrelation der Organe. Sie stehen zueinander, gemeinsam mit den Drüsen mit innerer Sekretion (Schilddrüse, Sexualdrüsen, Nebenniere, Gehirnanhangsdrüse) wie in einem geheimen Bunde und können sich gegenseitig unterstützen oder schädigen. So kommt es, daß Formen bestehen können, die im einzelnen dem Verfall geweiht wären, in ihrem Zusammenhang aber den Gesamtfunktionswert des Individuums nicht wesentlich stören. In dieser Totalitätswirkung spielt das periphere und zentrale Nervensystem eine hervorragende Rolle, weil es im Bunde mit dem vegetativen System in seinen Leistungen eine große Steigerungsfähigkeit aufweist und im eigenen Training, körperlich und geistig, den Gesamtfunktionswert des Individuums zu erhöhen imstande ist. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß selbst atypische, geradezu fehlerhafte Formen den Bestand von Individuen und Generationen keineswegs bedrohen müssen, da sie aus anderen Kraftquellen eine Kompensation erfahren, so daß sich die Bilanz des Gesamtindividuums im Gleichgewicht, gelegentlich sogar darüber halten kann. Eine unvoreingenommene Untersuchung wird wohl zeigen, daß sich unter den hervorragendsten, leistungsfähigsten Menschen nicht gerade immer die schönsten finden. Dies legt auch den Gedanken nahe, daß eine individuelle