Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler

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verwendet sie zur Konkretisierung seines Lebensstils, schafft sich ein Ziel, dem es unentwegt anhängt, demgemäß es apperzipiert, denkt, fühlt und handelt. Hat man einmal die Bewegung des Individuums ins Auge gefaßt, dann kann einen keine Macht der Welt davon entheben, ein Ziel anzunehmen, dem die Bewegung zuströmt. Es gibt keine Bewegung ohne Ziel. Dieses Ziel kann nie erreicht werden. Die Ursache liegt im primitiven Verstehen des Menschen, daß er niemals der Herr der Welt sein kann, so daß er diesen Gedanken, wenn er einmal auftaucht, in die Sphäre des Wunders oder der Allmacht Gottes versetzen muß.

      Das Minderwertigkeitsgefühl beherrscht das Seelenleben und läßt sich leicht aus dem Gefühl der Unvollkommenheit, der Unvollendung und aus dem ununterbrochenen Streben der Menschen und der Menschheit verstehen.

      Jede der tausend Aufgaben des Tages, des Lebens setzt das Individuum in Angriffsbereitschaft. Jede Bewegung schreitet von Unvollendung zur Vollendung. Ich habe im Jahre 1909 im »Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose« versucht, diese Tatsache näher zu beleuchten und kam zu dem Schluß, daß die Art dieser im Zwange der Evolution entstandenen Angriffsbereitschaft aus dem Lebensstil erwächst, ein Teil des Ganzen ist. Sie als radikal böse aufzufassen, sie aus einem angeborenen sadistischen Trieb zu erklären, dazu fehlt jeder Vorwand. Wenn man schon den trostlosen Versuch macht, ein Seelenleben auf Trieben ohne Richtung und Ziel aufzubauen, so dürfte man zumindest nicht den Zwang der Evolution vergessen, auch nicht den im Menschen evolutionär gegebenen Hang zur Gemeinschaft. Daß kritiklose Menschen aus allen Schichten diese unverstandene Erfassung des Seelenlebens verwöhnter und deshalb schwer enttäuschter Menschen, die nie genug haben, für eine grundlegende Lehre des Seelenlebens halten, kann bei der übergroßen Zahl verwöhnter und enttäuschter Menschen nicht wundernehmen.

      Die Einordnung des Kindes in seinen ersten Umgebungskreis ist demnach sein erster schöpferischer Akt, zu dem es unter Gebrauch seiner Fähigkeiten durch sein Minderwertigkeits­gefühl getrieben wird. Diese Einordnung, in jedem Falle verschieden, ist Bewegung, die schließlich als Form, gefrorene Bewegung von uns erfaßt wird, Lebensform, die ein Ziel der Sicherheit und Überwindung zu versprechen scheint. Die Grenzen, in denen sich diese Entwicklung abspielt, sind die allgemein menschlichen, durch den Stand der generellen und individuellen Evolution gegebenen. Aber nicht jede Lebensform nützt diesen Stand richtig aus und stellt sich deshalb mit dem Sinn der Evolution in Widerspruch. In den früheren Kapiteln habe ich gezeigt, daß die volle Entwicklung des menschlichen Körpers und Geistes am besten gewährleistet ist, wenn sich das Individuum in den Rahmen der idealen Gemeinschaft, die zu erstreben ist, einfügt als Strebender und Wirkender. Zwischen denen, die, bewußt oder ohne es zu wissen, diesem Standpunkt gerecht werden, und den vielen anderen, die ihm nicht Rechnung tragen, klafft ein unüberbrückbarer Spalt. Der Widerspruch, in dem sie stehen, erfüllt die Menschenwelt mit kleinlichen Zänkereien und mit gewaltigen Kämpfen. Die Strebenden bauen auf und tragen zur Wohlfahrt der Menschheit bei. Aber auch die Widerstrebenden sind nicht durchaus wertlos. Durch ihre Fehler und Irrtümer, die kleinere und größere Kreise schädigen, zwingen sie die anderen, stärkere Anstrengungen zu machen. So gleichen sie dem Geist, »der stets das Böse will und doch das Gute schafft«. Sie erwecken den kritischen Geist der anderen und verhelfen ihnen zu besserer Einsicht. Sie tragen zum schaffenden Minderwertigkeits­gefühl bei.

      Die Richtung zur Entwicklung des einzelnen und der Gemeinschaft ist demnach durch den Grad des Gemeinschaftsgefühls vorgeschrieben. Dadurch ist ein fester Standpunkt gewonnen zur Beurteilung von richtig und unrichtig. Es zeigt sich ein Weg, der sowohl für Erziehung und Heilung, als auch für die Beurteilung von Abwegigkeiten eine überraschende Sicherheit bietet. Das Maß, das damit zur Anwendung kommt, ist um vieles schärfer, als es je ein Experiment vorzeigen könnte. Hier macht das Leben die Testprüfungen; jede kleinste Ausdrucksbewegung kann man auf die Richtung und Distanz zur Gemeinschaft prüfen. Ein Vergleich etwa mit den landläufigen Maßen der Psychiatrie, die an den schädigenden Symptomen oder an den Schädigungen der Gemeinschaft mißt, wohl auch im Banne der aufwärts strebenden Gemeinschaft ihre Methoden zu verfeinern trachtet, zeigt die individual­psychologische Methode durchaus im Vorteil. Im Vorteil auch deshalb, weil sie nicht verurteilt, sondern zu bessern trachtet, weil sie die Schuld vom einzelnen nimmt und sie den Mängeln unserer Kultur zuweist, an deren Mangelhaftigkeit alle anderen mitschuldig sind, und auffordert, an deren Behebung mitzuarbeiten. Daß wir heute noch an die Verstärkung des Gemeinschaftsgefühls, an das Gemeinschaftsgefühl selbst denken müssen, um es zu erobern, liegt an dem geringen bisher erreichten Grade unserer Evolution. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß künftige Geschlechter es ihrem Leben so weit inkorporiert haben werden wie wir das Atmen, den aufrechten Gang oder des Sehen der sich auf der Retina fortwährend bewegenden Lichteindrücke als ruhende Bilder.

      Auch diejenigen, die das Gemeinschaftsfördernde im Seelenleben des Menschen, sein »Liebe-Deinen-Nächsten« nicht verstehen, alle, die nur bestrebt sind, den »inneren Lumpenhund« im Menschen zu entdecken, der sich nur listig vor dem Erkannt � und Gestraftwerden duckt, sind wichtiger Dünger für die aufwärts strebende Menschheit und zeigen in bizarrer Vergrößerung nur ihren Rückstand. Ihr Minderwertigkeitsgefühl sucht den persönlich gemeinten Ausgleich in der Überzeugung vom Unwert aller anderen. Gefährlich scheint mir der Mißbrauch der Idee des Gemeinschafts­gefühls in der Form, die gelegentliche bisherige Ungeklärtheit des Weges zum Gemeinschaftsgefühl dazu zu benützen, gemeinschafts­schädliche Anschauungs- und Lebensformen gutzuheißen und zu forcieren unter dem Titel der Rettung der gegenwärtigen oder sogar einer zukünftigen Gemeinschaft. So finden gelegentlich die Todesstrafe, der Krieg oder selbst die Aufopferung Widerstrebender ihre maulgewandten Fürsprecher, die sich immer auch � welch ein Zeichen der Allgewalt des Gemeinschaftsgefühls! � mit dem Mantel des Gemeinschaftsgefühls drapieren. Alle diese veralteten Anschauungen sind vielmehr deutliche Anzeichen dafür, daß diese Fürsprache aus der mangelnden Zuversicht stammt, einen besseren, einen neuen Weg zu finden, demnach aus einem nicht zu verkennenden Minderwertigkeits­gefühl. Daß auch der Mord nichts ändert an der Allgewalt fortgeschrittener Ideen, noch an dem Zusammenbruch absterbender, sollte die Menschheits­geschichte jeden gelehrt haben. Es gibt aber, soweit wir sehen können, nur einen einzigen Fall, der eine Tötung rechtfertigen könnte, der Fall der Selbstverteidigung bei eigener Lebensgefahr, oder bei der anderer. Niemand größerer als Shakespeare hat dieses Problem, ohne verstanden zu sein, in Hamlet klar vor die Augen der Menschheit gebracht. Shakespeare, der so wie die Dichter der Griechen in allen seinen Tragödien dem Mörder, dem Verbrecher die Erinnyen an den Hals hetzt, in einer Zeit, in der, ärger als heute blutige Taten, das Gemeinschaftsgefühl derer erschauern machte, die näher zum Ideal der Gemeinschaft strebten, ihm auch näher waren und gesiegt haben. Alle Verirrungen des Verbrechers zeigen uns die äußersten Grenzen an, bis zu welchen das Gemeinschaftsgefühl des Fallenden reichte. Dem vorwärts strebenden Anteil der Menschheit obliegt daher die strenge Pflicht, nicht nur aufzuklären und richtig zu erziehen, sondern auch nicht voreilig die Prüfungen für den im Gemeinschaftsgefühl Ungeschulten zu schwer zu gestalten, ihn etwa so zu betrachten, als ob er leisten könnte, was nur bei entwickeltem Gemeinschaftsgefühl zu leisten wäre, niemals aber beim Mangel desselben, weil der Unvorbereitete beim Zusammenstoß mit dem ein starkes Gemeinschaftsgefühl erfordernden Problem eine Schockwirkung erlebt, die unter Ausgestaltung eines Minderwertigkeits­komplexes zu Fehlschlägen aller Art Anlaß gibt. Die Struktur des Verbrechers zeigt deutlich den Lebensstil eines mit Aktivität begabten, der Gemeinschaft wenig geneigten Menschen, der von Kindheit an die Meinung vom Leben entwickelt hat, berechtigt zu sein, den Beitrag anderer für sich auszunützen. Daß dieser Typus sich vorwiegend bei verwöhnten Kindern, seltener bei vernachlässigten Personen findet, dürfte nicht lange mehr ein Geheimnis bleiben. Das Verbrechen als Selbstbestrafung anzusehen, es auf Urformen kindlicher sexueller Perversion zurückzuführen, gelegentlich auch auf den sogenannten Ödipuskomplex, ist leicht zu widerlegen, wenn man versteht, daß der für Metaphern im realen Leben schwärmende Mensch sich allzu leicht in den Maschen von Gleichnissen und Ähnlichkeiten verfängt. Hamlet: »Sieht diese Wolke nicht aus wie ein Kamel?« Polonius: »Ganz wie ein Kamel.«

      Kinderfehler wie Stuhlverhaltung, Bettnässen, auffallende Zuneigung zur Mutter, ohne von ihr recht loszukommen usw., sind deutliche Zeichen eines verwöhnten Kindes, dessen Lebensraum nicht über die

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