Gesammelte Werke. Alfred Adler
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8. Typen der Fehlschläge
Ich gehe nur mit großer Vorsicht an eine Typenlehre heran, da sich dabei leicht bei dem Lernenden die Täuschung einschleicht, als ob ein Typus etwas fest Gefügtes, etwas Selbständiges sei, dem mehr zugrunde liegt als eine im großen und ganzen ähnliche Struktur. Macht er dabei halt und glaubt, wenn er das Wort Verbrecher hört, oder Angstneurose oder Schizophrenie, daß er schon etwas vom individuellen Fall erfaßt hat, dann schneidet er sich nicht nur die Möglichkeit individueller Forschung ab, sondern er wird aus den Mißverständnissen, die zwischen ihm und dem Behandelten entstehen, nie herauskommen. Vielleicht die besten Einsichten, die ich aus der Beschäftigung mit dem Seelenleben gewonnen habe, stammen aus meiner Vorsicht in der Benützung der Typenlehre. Eine Benützung, die freilich nicht ganz umgangen werden kann, die uns das Allgemeine, etwa die generelle Diagnostik ermöglicht, uns aber über den speziellen Fall und seine Behandlung wenig sagen kann. Am besten tut, wer sich stets erinnert, daß wir es in jedem Falle eines Fehlschlages mit Symptomen zu tun haben, Symptomen, die aus einem speziellen, zu suchenden Minderwertigkeitsgefühl zu einem Überlegenheitskomplex erwachsen sind, angesichts eines exogenen Faktors, der mehr Gemeinschaftsgefühl erfordert hat, als das Individuum aus seiner Kindheit vorrätig hat.
Beginnen wir mit den »schwer erziehbaren Kindern«. Man spricht von diesem Typus natürlich nur, wenn es sich durch längere Zeit gezeigt hat, daß ein Kind sich nicht als gleichberechtigter Teilnehmer zur Mitarbeit einstellt. Es fehlt das Gemeinschaftsgefühl, obwohl man gerechter Weise gezwungen ist festzustellen, daß ein für durchschnittliche Verhältnisse zureichendes Gemeinschaftsgefühl nicht selten infolge ungerechter Anspannung im Hause oder in der Schule sich als nicht mehr ausreichend erweist. Dieser Fall ist häufig und allgemein in seinen Erscheinungen bekannt. Wir können daraus etwas über den Wert der individualpsychologischen Forschung erkennen, um für schwierigere Fälle vorbereitet zu sein. Eine Prüfung des Individuums, experimentell, graphologisch, kurz losgelöst von seiner Umgebung, kann zu großen Irrtümern Anlaß geben und berechtigt keinesfalls, dem so losgelösten Individuum spezielle Vorschläge zu machen oder es irgendwie zu klassifizieren. An solchen und ähnlichen Tatsachen wird es klar, daß der Individualpsychologe sich eine zureichende Kenntnis aller möglichen sozialen Verhältnisse und Mißstände verschaffen muß, um richtig sehen zu können. Man kann noch weiter gehen und fordern, daß der Individualpsychologe eine Meinung von seinen Aufgaben, eine Meinung von den Forderungen des Lebens, eine Weltanschauung besitzen muß, die dem Wohle der Allgemeinheit zustrebt.
Ich habe eine Einteilung der schwer erziehbaren Kinder vorgeschlagen, die sich in mancher Hinsicht als nützlich bewährt: in mehr passive, wie faule, indolente, gehorsame aber abhängige, in schüchterne, ängstliche, lügenhafte und ähnliche Kinder und in mehr aktive, wie herrschsüchtige, ungeduldige, aufgeregte und zu Affekten neigende, in störende, grausame, prahlerische, in Davonläufer, diebische, sexuell leicht erregte usw. Man soll dabei nicht Haare spalten, sondern im einzelnen Fall versuchen, sich Gewißheit zu verschaffen, welchen Grad der Aktivität man ungefähr feststellen kann. Dies ist um so wichtiger, als man im Falle eines ausgewachsenen Fehlschlags ungefähr den gleichen Grad von fehlgeschlagener Aktivität erwarten und beobachten kann wie in der Kindheit. Den ungefähr richtigen Grad von Aktivität, der hier Mut heißt, wird man bei Kindern mit genügendem Gemeinschaftsgefühl finden. Bestrebt man sich diesen Grad der Aktivität im Temperament, in der Schnelligkeit oder Langsamkeit des Vorwärtsgehens aufzusuchen, so soll man nicht vergessen, daß auch diese Ausdrucksformen Teile des ganzen Lebensstiles sind, deshalb bei gelungener Besserung abgeändert erscheinen. Man wird nicht überrascht sein, unter den Neurotikern einen viel größeren Prozentsatz der passiven Kinderfehler, unter den Verbrechern der aktiven aufdecken zu können. Daß ein späterer Fehlschlag ohne Schwererziehbarkeit zustande kommen könnte, möchte ich einer fehlerhaften Beobachtung zuschreiben. Freilich können ausnahmsweise günstige äußere Verhältnisse das Auftauchen eines Kinderfehlers verdecken, der bei strengerer Prüfung sofort erscheint. Wir ziehen in jedem Fall die Prüfungen, die das Leben anstellt, allen experimentellen vor, weil dabei der Zusammenhang mit dem Leben nicht vernachlässigt ist.
Kinderfehler, die in den Bereich der medizinischen Psychologie gehören, finden sich, abgesehen von Fällen brutaler Behandlung, fast ausschließlich bei verwöhnten, abhängigen Kindern und können mit größerer oder geringerer Aktivität verbunden sein. So Bettnässen, Eßschwierigkeiten, nächtliches Aufschreien, Verkeuchen, Stuhlverhaltung, Stottern usw. Sie äußern sich wie ein Protest gegen das Erwachen zur Selbständigkeit und zur Mitarbeit und erzwingen die Unterstützung durch andere. Auch kindliche Masturbation, längere Zeit trotz der Entdeckung fortgesetzt, kennzeichnet diesen Mangel an Gemeinschaftsgefühl. Man wird nie genug getan haben, wenn man symptomatisch vorgeht und den Fehler allein auszurotten versucht. Der sichere Erfolg kann nur von einer Hebung des Gemeinschaftsgefühls erwartet werden.
Zeigen schon die mehr passiven Kinderfehler und Schwierigkeiten einen der Neurose verwandten Zug, die starke Betonung des »Ja«, die stärkere des »Aber«, so tritt der Rückzug von den Lebensproblemen in der Neurose ohne offene Betonung des Überwertigkeitskomplexes deutlicher hervor. Man kann stets ein Gebanntsein hinter der Front des Lebens beobachten, ein Entferntsein von der Mitarbeit oder ein Suchen nach Erleichterung und nach Ausreden für den Fall mangelnden Gelingens. Die dauernde Enttäuschung, die Furcht vor neuen Enttäuschungen und Niederlagen erscheint in dem Festhalten von Schocksymptomen, die das Fernbleiben von Lösungen der Gemeinschaftsprobleme sichern. Gelegentlich, wie häufig in der Zwangsneurose, gelangt der Kranke bis zu einem abgeschwächten Fluchen, das sein Mißfallen an den anderen verrät. Im Verfolgungswahn wird die Empfindung des Kranken von der Feindseligkeit des Lebens noch deutlicher sichtbar, so es einer im Fernbleiben von Lebensproblemen noch nicht gesehen hat. Gedanken, Gefühle, Urteile und Anschauungen laufen immer in der Richtung des Rückzuges, so daß jeder deutlich merken könnte: die Neurose ist ein schöpferischer Akt und kein Rückfall in infantile oder atavistische Formen. Dieser schöpferische Akt, dessen Urheber der Lebensstil ist, das selbstgeschaffene Bewegungsgesetz, immer in irgendeiner Form auf Überlegenheit hinzielend, ist es auch, der in den mannigfaltigen Formen, wieder entsprechend dem Lebensstil, der Heilung Hindernisse in den Weg zu legen trachtet, bis die Überzeugung, der Common sense beim Patienten die Oberhand gewinnt. Nicht selten ist das heimliche Ziel der Überlegenheit, wie ich aufgedeckt habe, in den halb trauervollen, halb tröstenden Ausblick hineinversteckt: was der Patient alles zustande gebracht hätte, wenn sein einzigartiger Aufschwung nicht durch eine Kleinigkeit, meist durch die Schuld der anderen, vereitelt worden wäre. Minderwertigkeitsgefühle höheren Grades, Streben nach persönlicher Überlegenheit und mangelndes Gemeinschaftsgefühl sind bei einiger Erfahrung in der Vorzeit des Fehlschlages stets zu finden. Der Rückzug von den Lebensproblemen wird vollständig im Selbstmord. In seiner seelischen Struktur liegt Aktivität, keineswegs Mut, ein aktiver Protest gegen nützliche Mitarbeit. Der Streich, der den Selbstmörder trifft, läßt andere nicht unverschont. Die vorwärtsstrebende Gemeinschaft wird sich immer durch Selbstmord verletzt fühlen.
Die exogenen Faktoren, die das Ende des zu geringen Gemeinschaftsgefühls herbeiführen, sind die von uns genannten drei großen Lebensprobleme, Gesellschaft, Beruf und Liebe. In allen Fällen ist es der Mangel an Anerkennung, der Selbstmord oder Todeswünsche herbeiführt, die erlebte oder gefürchtete Niederlage in einer