Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler

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bestätigt wird, daß sie herrschsüchtig sind, so haben wir es mit jenem Typus zu tun, den ich als zu Kopfschmerz, Migräne, nervöser Trigeminusneuralgie und zu epileptiformen Anfällen geneigt beschrieben habe.

      Patientin klagt auch über Harndrang, der stets auftritt, sobald sie in nervöser Anspannung ist, anläßlich von Besuchen, Zusammentreffen mit fremden Personen etc.

      Ich habe in meiner Arbeit über die psychische Wurzel der Trigeminus­neuralgie darauf hingewiesen, daß man bei nicht organisch fundierten Fällen immer eine erhöhte emotionelle Spannung findet, die sich leicht in allerlei nervösen Symptomen äußert, wie sie auch oben festgestellt sind, und die auf dem Wege der vasomotorischen Erregung sowie der Erregung des Sympathico-Adrenalinsystems an Prädilektionsstellen mit großer Wahrscheinlichkeit durch Veränderung der Blutgefäße und der Blutzufuhr Symptome wie Schmerz, aber auch Lähmungserscheinungen hervorrufen kann. Ich habe damals auch die Vermutung geäußert, daß Asymmetrien des Schädels, der Gesichtshälften, der Kopfvenen und -arterien verräterische Zeichen dafür sind, daß auch innerhalb der Schädeldecke, in den Hirnhäuten und wohl auch im Gehirn solche Asymmetrien sich finden dürften, die wahrscheinlich Verlauf und Kaliber der dortigen Venen und Arterien betreffen; vielleicht zeigen hier auch die begleitenden und naheliegenden Nervenfasern und Zellen in einer der beiden Hälften schwächere Ausbildung. Besonderes Augenmerk wäre dann dem Verlauf der Nervenkanäle zu schenken, die, sicher ebenfalls asymmetrisch, sich bei Erweiterung der Venen und Arterien auf einer Seite als zu eng erweisen könnten. Daß bei Emotionen, besonders bei Ärger, aber auch bei Freude, Angst und Kummer die Füllung der Gefäße sich verändert, kann man an der Gesichtsfarbe, und, im Ärger, an den hervortretenden Venen des Schädels sehen. Es liegt nahe, solche Veränderungen auch in den tiefer liegenden Schichten anzunehmen. Es bedarf wohl noch vieler Untersuchungen, um alle die Komplikationen aufzuklären, die dabei im Spiele sind.

      Gelingt es uns aber, auch in diesem Falle, nicht nur die durch den herrschsüchtigen Lebensstil bereitgestellte Zornmütigkeit zu erweisen, sondern auch das exogene Moment vor dem Anfall, der unter den bisherigen der stärkste war, können wir die dauernde seelische Spannung seit frühester Kindheit feststellen, den Minderwertigkeitskomplex und den Überlegenheits­komplex, den Mangel an Interesse für andere, Eigenliebe sowohl in ihrem jetzigen Leben als auch in Erinnerungen und Träumen, haben wir auch noch dazu Erfolg mit der individualpsychologischen Behandlung, etwa gar einen Dauererfolg, so ist damit ein weiterer Beweis geliefert, daß Erkrankungen wie nervöser Kopfschmerz, Migräne, Trigeminusneuralgie und epileptiforme Anfälle, sofern keine organischen Störungen nachzuweisen sind, durch eine Veränderung des Lebensstils, durch Herabsetzung der seelischen Spannung, durch Erweiterung des Gemeinschaftsgefühles möglicherweise einer dauernden Heilung zuzuführen sind.

      Der Harndrang bei Besuchsgelegenheiten gibt uns schon ein Bild einer allzu leicht aufgeregten Person, wobei die Ursache des Harndranges, ebenso wie die Ursache des Stotterns und anderer nervöser Störungen und Charakterzüge, wie auch des Lampenfiebers exogen ist, in der Begegnung mit anderen Personen liegt. Dabei ist auch das erhöhte Minderwertigkeitsgefühl zu sehen. Wer individualpsychologische Einsicht besitzt, wird hier auch leicht die Abhängigkeit vom Urteil der anderen, demnach das erhöhte Streben nach Anerkennung, nach persönlicher Überlegenheit wahrnehmen. Die Patientin selbst erklärt, an anderen kein besonderes Interesse zu haben. Sie behauptet, nicht ängstlich zu sein, auch ohne Anstrengung mit anderen sprechen zu können, geht aber im Vielreden weit über das gewöhnliche Maß hinaus und läßt mich kaum zu Wort kommen, was ein sicheres Zeichen ihrer Neigung zu krampfhafter Selbstdarstellung ist. In ihrer Ehe ist sie wohl die regierende Person, scheitert aber an der Indolenz und an dem Ruhebedürfnis ihres Gatten, der angestrengt arbeitet und spät am Abend müde nach Hause kommt, nicht geneigt, mit seiner Frau auszugehen oder mit ihr Unterhaltungen aufzusuchen. Wenn sie vorspielen sollte, litt sie an starkem Lampenfieber. Die von mir als bedeutsam empfohlene Frage, was sie tun würde, wenn sie gesund wäre � eine Frage, deren Beantwortung deutlich zeigt, wovor die Patienten zurückschrecken �, beantwortet die Patientin ausweichend mit dem Hinweis auf die dauernden Kopfschmerzen. An der linken Augenbraue befindet sich eine tiefsitzende Narbe nach einer Operation der Ethmoidhöhle, einer Operation, der sehr bald wieder der Migräneanfall folgte. Daß ihr Kälte in jeder Form schade und Anfälle hervorrufen könne, behauptet die Patientin steif und fest. Nichtsdestoweniger ging sie vor dem letzten Anfall in ein kaltes Bad, das, wie sie meint, den Anfall prompt auslöste. Die Anfälle sind nicht von einer Aura eingeleitet. Übelkeiten im Beginne des Anfalles treten gelegentlich auf, nicht immer. Sie ist von verschiedenen Ärzten gründlich untersucht worden, ohne daß eine organische Veränderung gefunden worden wäre. Röntgenuntersuchung des Schädels, Blut- und Harnuntersuchung waren negativ. Uterusbefund: infantil, Anteversio und Anteflexio. Ich habe in meiner »Studie über Minderwertigkeit von Organen« darauf hingewiesen, daß man nicht nur häufig Organminderwertigkeiten bei Neurotikern findet, wofür die Ergebnisse der Kretschmerschen Untersuchungen eine gute Bestätigung abgeben, sondern auch, daß man bei Organminderwertigkeiten stets auch Minderwertigkeiten der Sexualorgane zu erwarten hat, was durch Kyrie, der leider zu früh verstorben ist, nachgewiesen wurde. Hier ist ein solches Beispiel.

      Es stellte sich heraus, daß die Patientin, seit sie die Geburt eines jüngeren Geschwisters unter größtem Schrecken erlebt hatte, vor dem Gebären eine wahnsinnige Angst hatte. Dies bestätigt meine Warnungen, Kindern sexuelle Fakten zu früh nahezulegen, solange man nicht sicher ist, daß sie sie richtig verstehen und verdauen können. Als sie elf Jahre alt war, beschuldigte sie ihr Vater zu Unrecht, daß sie sexuellen Umgang mit einem Nachbarssohn gehabt hätte. Auch dieses mit Schreck und Angst verknüpfte Nahebringen der Sexualbeziehung verstärkte ihren Protest gegen die Liebe, der sich während ihrer Ehe als Frigidität darstellte. Vor Eingehen ihrer Ehe verlangte sie die bindende Erklärung von ihrem Bräutigam, daß er auf Kinder dauernd verzichten würde. Ihre Migräneanfälle und die stets festgehaltene Furcht vor solchen setzten sie leicht in die Lage, den ehelichen Verkehr auf ein Minimum zu reduzieren. Wie man oft bei sehr ehrgeizigen Mädchen findet, gestalten sich ihre Liebesbeziehungen irgendwie schwierig, weil sie diese in einem schweren Minderwertigkeitsgefühl, dem unsere kulturelle Zurückgebliebenheit Vorschub leistet, mißverständlich als Zurücksetzung der Frau erlebte.

      Das Minderwertigkeitsgefühl und der Minderwertigkeitskomplex, diese fundamentale Anschauung der Individualpsychologie, einst von den Psychoanalytikern als das rote Tuch betrachtet ebenso wie der männliche Protest, sind heute von Freud vollkommen aufgenommen und nur ganz schwächlich in sein System eingezwängt. Was aber bis heute von dieser Schule noch nicht verstanden ist, ist die Tatsache, daß ein solches Mädchen unter fortwährenden protestierenden Emotionen steht, die den Körper und die Seele vibrieren machen und sich jedesmal nur im Falle eines exogenen Faktors, im Falle einer Prüfung auf das vorhandene Gemeinschaftsgefühl als akute Symptome äußern.

      In diesem Falle sind die symptomatischen Äußerungen Migräne und Harndrang. Als Dauersymptom besteht seit ihrer Ehe Furcht vor Kindersegen und Frigidität. Ich glaube, ein gutes Stück zur Erklärung der Migräne bei dieser herrschsüchtigen und jähzornigen Person � und es scheint, daß nur solche Personen unter Hinzukommen der oben beschriebenen Asymmetrie an Migräne und ähnlichen Schmerzen erkranken können � beigebracht zu haben, habe aber noch jenen exogenen Faktor nachzuweisen, der den letzten, so außerordentlich schweren Anfall erzeugt hat. Ich kann nicht ganz leugnen, daß in diesem Falle das kalte Bad den Anfall ausgelöst hat, bin aber stutzig darüber, daß die Patientin, die so genau und so lange schon über den Schaden der Kälte Bescheid weiß, vor sieben Monaten ohne weiteres bereit war, ins kalte Wasser zu steigen, wie sie sagt, ohne an die Gefahr zu denken. Sollte damals ihre Zornwelle gestiegen sein? Kam ihr damals vielleicht ein Anfall gelegen? Hatte sie einen Gegenspieler, wie etwa den ihr in Liebe ergebenen Gatten, den sie damit treffen wollte, und ging sie ins kalte Wasser etwa wie einer, der Selbstmord aus Rache, zur Bestrafung einer anhänglichen Person begehen will? Wütet sie noch immer gegen sich, weil sie gegen einen anderen wütet? Vertieft sie sich in die Lektüre über Migräne, geht sie zu Ärzten und erfüllt sie sich mit der Überzeugung, nie gesund werden zu können, um die Lösung ihrer Lebensprobleme, vor denen sie sich aus mangelhaftem Gemeinschaftsgefühl fürchtet, hinauszuschieben?

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