Gesammelte Werke. Alfred Adler
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Ist nun das Minderwertigkeitsgefühl besonders drückend, dann besteht die Gefahr, daß das Kind in seiner Angst, für sein zukünftiges Leben zu kurz zu kommen, sich mit dem bloßen Ausgleich nicht zufrieden gibt und zu weit greift (Überkompensation). Das Streben nach Macht und Überlegenheit wird überspitzt und ins Krankhafte gesteigert. Solchen Kindern werden die gewöhnlichen Beziehungen ihres Lebens nicht genügen. Sie werden, ihrem hochgesteckten Ziel entsprechend, zu großen, auffallenden Bewegungen ausholen. Mit einer besonderen Hast, mit starken Impulsen, die weit über das gewöhnliche Maß hinausgehen, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, suchen sie ihre eigene Position sicherzustellen. Auf diese Weise werden sie auffallend, greifen störend in das Leben anderer ein und nötigen sie naturgemäß, sich zur Wehr zu setzen. Sie sind gegen alle und alle gegen sie. Es muß nicht alles gleich im bösesten Sinn ablaufen. Ein solches Kind kann sich lange Zeit in Bahnen bewegen, die äußerlich normal erscheinen mögen, es kann den Charakterzug, der ihm auf diesem Wege zuerst zuwächst, den Ehrgeiz, auf eine Weise betätigen, daß es noch nicht in einen offenen Konflikt mit anderen gerät. Man wird aber regelmäßig finden, daß die Anstalten, die es trifft, niemand rechte Freude machen, daß sie auch keine wahrhaft nützlichen Wirkungen zeitigen, weil das ein Weg ist, der unserer Kultur unannehmbar erscheint. Denn mit ihrem Ehrgeiz, den sie in der Kindheit durchaus nicht so lenken und betätigen können, daß er fruchtbar wird, sondern den sie gewöhnlich überspitzen, werden sie immer anderen Menschen störend in den Weg treten. Später gesellen sich gewöhnlich noch andere Erscheinungen hinzu, die im Sinne eines sozialen Organismus, wie es die menschliche Gesellschaft sein soll, schon Feindseligkeit bedeuten. Hierher gehören vor allem Eitelkeit, Hochmut und ein Streben nach Überwältigung des Andern um jeden Preis, was sich auch so darstellen kann, daß sie selbst gar nicht mehr höher hinaufstreben, sondern sich damit begnügen, daß der andere sinkt. Dann kommt es ihnen nur mehr auf die Distanz an, auf den größeren Unterschied zwischen ihnen und den andern. Eine solche Stellungnahme zum Leben ist aber nicht nur für die Umgebung störend, sie wird sich auch dem Träger dieser Erscheinungen selbst unangenehm fühlbar machen, indem sie ihn mit den Schattenseiten des Lebens so sehr erfüllt, daß ihm daraus keine rechte Lebensfreude ersprießt.
Durch besondere Kraftanstrengungen, vermittels welcher diese Kinder über alle andern hinauswachsen wollen, setzen sie sich in Widerspruch zu den gemeinsamen Aufgaben, die den Menschen obliegen. Wenn man diesen Typus der Machtlüsternen mit dem Ideal eines Gemeinschaftsmenschen vergleicht, wird man bei einiger Erfahrung jene Übung im Abschätzen gewinnen, die gestattet, ungefähr festzustellen, wie weit sich ein Mensch vom Gemeinschaftsgefühl entfernt hat.
Und so darf wohl, wenn auch mit größter Vorsicht, der Blick des Menschenkenners auf körperliche und seelische Mängel fallen, die ihm nahelegen, daß hier eine erschwerte Entwicklung im Seelenleben vor sich gegangen sein muß. Wenn wir uns dies vor Augen halten, dann werden wir, wofern wir nur selbst unser Gemeinschaftsgefühl genügend entwickelt haben, uns dessen bewußt sein, keinerlei Schaden zu stiften, sondern nur nützen zu können. Dies zuerst in dem Sinn, daß wir den Träger einer Verunstaltung oder eines unsympathischen Charakterzuges für sein Wesen nicht verantwortlich machen, sondern ihm sein Recht, ungehalten zu sein, bis zur äußersten Grenze wahren, daß wir uns der gemeinsamen Schuld bewußt sind, die auch uns alle trifft, die wir in dieser Hinsicht nicht genügend Vorsorge getroffen und uns so an dem sozialen Elend mitschuldig gemacht haben. Von diesem unserem Standpunkt aus werden wir Erleichterungen schaffen können und solchen Menschen nicht mehr gegenübertreten, wie einem Abfall, einem Degenerationsprodukt der Menschheit. In dieser Erkenntnis werden wir ihm jene Atmosphäre erst schaffen müssen, die ihm eine freiere Entwicklung ermöglicht und es ihm leichter machen, sich in seinem Verhältnis zur Umwelt als gleich und gleichwertig einzuschätzen. Wenn wir uns erinnern, wie unangenehm uns oft der Anblick eines Menschen berührt, dessen angeborene Minderwertigkeit schon äußerlich sichtbar ist, dann werden wir ermessen können, welches Erziehungswerk wir erst an uns selbst vorzunehmen haben, um mit der absoluten Wahrheit des Gemeinschaftsgefühls in Einklang zu kommen, und wieviel die Kultur diesen Menschen schuldig geblieben ist. Es ist selbstverständlich, daß gerade Menschen, die mit minderwertigen Organen zur Welt gekommen, nun sofort eine Wucht des Lebens zu spüren bekommen, die andern erspart bleibt, leicht eine pessimistische Weltanschauung entwickeln. Und in der gleichen Lage sind auch alle andern Kinder, bei denen die Minderwertigkeit eines Organs zwar nicht so auffällt, die aber ebenfalls, mit Recht oder Unrecht, ein Gefühl der Minderwertigkeit in sich tragen. Dasselbe kann durch besondere Situationen, z. B. durch strenge Erziehungsperioden, so gesteigert werden, daß es im Effekt auf dasselbe hinauskommt. Den Stachel, der ihnen in frühen Kindheitstagen eingetrieben wurde, bringen sie nicht mehr los, die Kälte, der sie begegnet sind, schreckt sie von weiteren Annäherungsversuchen an die Umgebung ab, was damit endet, daß sie sich einer lieblosen Welt gegenüber glauben, an die eine Anknüpfung nicht möglich ist.
Beispiel: Ein Patient macht sich dadurch auffällig, daß er immer wie durch eine Last gedrückt einherschreitet und immer betont, wie sehr er von Pflichtbewußtsein und von der Wichtigkeit seiner Handlungen durchdrungen ist. Mit seiner Frau lebt er im denkbar schlechtesten Verhältnis. Beide Teile sind Menschen, die immer haarscharf auf einer Linie operieren, deren Endpunkt die Überlegenheit über den andern bildet. Die Folge davon sind Entzweiungen, Kämpfe, in deren Verlauf die gegenseitigen Vorwürfe immer schärfer und schwerer werden, bis das Band zerrissen ist und sie den Zusammenhang miteinander nicht mehr herstellen können. Sicherlich hatte dieser Mensch einen Teil seines Gemeinschaftsgefühls bewahrt. Was er aber seiner Frau, seinen Freunden und seiner sonstigen Umgebung bieten konnte, war durch seinen Hang, den Überlegenen zu spielen, gedrosselt.
Aus seiner Lebensgeschichte erzählt er folgendes: Bis zu seinem 17. Lebensjahr war er körperlich gar nicht entwickelt, er war nicht gewachsen, seine Stimme war noch die eines Knaben, es fehlte der Bartwuchs und hinsichtlich seiner Körpergröße gehörte er zu den Kleinsten. Heute ist er 36 Jahre alt. Nichts fällt an ihm auf, seine äußere männliche Erscheinung ist durchaus untadelig. Die Natur hat an ihm alles eingebracht, was sie ihm bis zum 17. Jahre vorenthalten hatte. Er hatte aber acht Jahre lang unter diesem Entwicklungsabbruch gelitten und konnte damals nicht wissen, daß dies von selbst wieder verschwinden werde. So war er die ganze Zeit über von dem Gedanken gequält, er werde körperlich zurückbleiben und immer als das »Kind« durchs Leben gehen. Schon damals zeigten sich an ihm die Ansätze zu dem, was später an ihm sichtbar wurde. Sobald er mit jemand zusammenkam, versuchte er ununterbrochen ihm klarzumachen, daß er nicht etwa das Kind sei, als das er erscheine. Das tat er so, daß er sich immer wichtig nahm und wichtig machte und alle Bewegungen und Ausdrucksmittel in den Dienst des Bestrebens stellte, sich vorzudrängen. So kamen im Lauf der Zeit die Eigenschaften an ihm zustande, die man heute an ihm sieht. Auch seiner Frau suchte er fortwährend begreiflich zu machen, daß er eigentlich größer sei als sie glaube, und daß ihm daher viel mehr Bedeutung zukomme, als ihm zuteil werde, während diese, ähnlich geartet, ihn wieder darauf verwies, daß er eigentlich kleiner sei als er annehme. Auf diese Weise konnte kein freundschaftliches Verhältnis Zustandekommen und die Ehe, die schon in der Verlobungszeit deutliche Anzeichen von Zerwürfnis gezeigt hatte, ging vollends in Brüche. Damit zugleich aber auch das ohnehin schon stark angegriffene Selbstbewußtsein dieses Menschen, der nun, durch diesen Mißerfolg schwer erschüttert, zum Arzt kam. Mit diesem gemeinsam mußte er nun erst Menschenkenntnis betreiben, um zu verstehen, welche Fehler er im Leben gemacht hatte. Der Irrtum seiner vermeintlichen Minderwertigkeit zog sich durch sein ganzes Leben.
3. Leitlinie und Weltbild
Wenn man solche Untersuchungen anstellt, empfiehlt es sich, den Zusammenhang etwa so herzustellen, als ob, von einem Kindheitseindruck angefangen, bis zum vorliegenden Tatbestand eine Linie führen würde. Auf diese Weise wird es in vielen Fällen gelingen,