Gesammelte Werke. Alfred Adler
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Nun gibt es in einem Verhältnis zweier Menschen, wie es die Ehe ist, eine Menge Beziehungen, die durch den Appell an die Zartheit in ein besonderes Licht gerückt werden. Es kann sein, daß der Mann beruflich abwesend sein muß, daß er einen Freundeskreis hat, auch allein Besuche machen oder bei Sitzungen von Vereinen erscheinen muß, denen er angehört. Würde es nicht die Forderung auf Zartheit, auf Rücksichtnahme verletzen, wenn er in solchen Fällen die Frau allein zuhause ließe? Im ersten Moment wären wir vielleicht geneigt — und das ist in der Tat sehr häufig — anzunehmen, daß die Ehe dazu berechtigt, den anderen Teil so stark wie möglich ans Haus zu fesseln. So sympathisch diese Forderung zum Teil erscheinen mag, in Wirklichkeit zeigt sich, daß so etwas für einen im Beruf stehenden Menschen eine unüberwindliche Schwierigkeit bedeutet. Störungen sind dann unvermeidlich, und so kann es, wie in unserem Fall kommen, daß der Mann, der nach Torsperre vorsichtig und bescheiden sein Bett aufsuchen will, dadurch überrascht wird, daß er seine Frau noch wach findet, die ihn nun mit einer vorwurfsvollen Miene empfängt. Die genügsam bekannten Situationen dieser Art sollen hier nicht weiter ausgemalt werden. Auch darf man nicht übersehen, daß es sich da nicht etwa nur um kleinere Fehler der Frau handelt, sondern daß es ebensoviele Männer gibt, die ebenso eingestellt sind. An dieser Stelle handelt es sich aber darum, zu zeigen, daß das Verlangen nach besonderer Zartheit gelegentlich auch einen anderen Weg einschlagen kann. In unserem Fall spielt sich ein solches Ereignis gewöhnlich so ab: Muß der Mann einen Abend außer Haus verbringen, so erklärt ihm die Frau, er gehe so selten in die Gesellschaft, daß er diesmal nicht zu frühe nach Hause kommen dürfe. Obwohl sie dies in scherzhaftem Ton sagt, enthalten ihre Worte dennoch einen sehr ernsthaften Kern. Es widerspricht scheinbar dem bisher entworfenen Bild. Sieht man aber näher zu, so erkennt man die Übereinstimmung. Die Frau ist so klug, daß sie, auch ohne daran zu denken, nicht zu streng vorgeht. Sie bietet auch äußerlich das Bild äußerster Liebenswürdigkeit in jeder Beziehung. Unser Fall ist an sich völlig untadelig und beschäftigt uns nur wegen des psychologischen Interesses. Die wahre Bedeutung ihrer Worte an den Mann liegt nun darin, daß es nunmehr die Frau ist, die das Diktat gegeben hat. Jetzt, nachdem sie es gestattet, ist es erlaubt, während sie äußerst beleidigt gewesen wäre, wenn es der Mann aus eigenem Antrieb getan hätte. Ihre Äußerung wirkt somit wie eine Verschleierung des ganzen Zusammenhanges. Jetzt ist sie der dirigierende Teil und der Mann ist, obwohl er nur einer gesellschaftlichen Verpflichtung nachgeht, von Wunsch und Willen der Frau abhängig geworden.
Verbinden wir die Forderung nach besonderer Zartheit nun mit unserer neuen Erkenntnis, daß diese Frau nur verträgt, was sie selbst kommandiert, dann fällt uns plötzlich ein, daß das ganze Leben dieser Frau von einem unerhörten Impuls durchzogen sein muß, keine zweite Rolle zu spielen, immer die Überlegenheit zu behalten, durch keinerlei Vorwurf aus ihrer Stellung geworfen zu werden, immer das Zentrum ihrer kleinen Umgebung zu sein. Diese Linie werden wir bei ihr in jeder Situation finden. So, wenn es sich darum handelt, eine Hausgehilfin zu wechseln. Da gerät sie in größte Aufregung, deutlich in der Besorgnis, ob sie die bisher gewohnte Herrschaft auch bei der neuen Hausgehilfin werde aufrecht erhalten können. Ähnlich, wenn sie sich zu einem Ausgang rüstet. Es ist etwas anderes für sie, in einer Sphäre zu leben, in der ihre Herrschaft unbedingt gesichert erscheint, als das Haus zu verlassen, sich »in die Fremde« zu begeben, auf die Straße, wo auf einmal nichts mehr ihrem Willen unterworfen ist, wo man jedem Wagen ausweichen muß, wo man also eine ganz kleine Rolle spielt. Ursache und Bedeutung dieser Spannung wird also erst klar, wenn man bedenkt, welche Machtfülle diese Frau zu Hause beansprucht.
Solche Erscheinungen treten oft in einer so sympathischen Schablone hervor, daß man im ersten Augenblick gar nicht auf den Gedanken verfällt, daß so ein Mensch leidet. Dieses Leiden kann hohe Grade erreichen. Man braucht sich nur derartige Spannungen, wie in unserem Fall, vergrößert denken. So gibt es Menschen, die eine Scheu davor haben, die Straßenbahn zu benutzen, weil sie dort keinen eigenen Willen haben. Das kann so weit gehen, daß solche Menschen schließlich überhaupt nicht mehr das Haus verlassen wollen.
In seiner weiteren Entwicklung ist unser Fall ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Kindheitseindrücke im Leben eines Menschen immer wieder nachwirken. Man kann nicht leugnen, daß diese Frau, von ihrem Standpunkt gesehen, recht hat. Denn wenn einer sich darauf einstellt und sein ganzes Leben danach einrichtet, mit unerhörter Intensität auf Wärme, Verehrung und Zartheit zu dringen, dann ist das Mittel, sich immer überlastet und aufgeregt zu gebärden, nicht so schlecht, weil es ihm dadurch nicht nur gelingen kann, jede Kritik von sich fernzuhalten, sondern dadurch auch die Umgebung zu veranlassen, immer sanft abzumahnen, zu helfen und alles zu vermeiden, was das seelische Gleichgewicht dieses Menschen stören könnte.
Gehen wir um eine größere Spanne im Leben unserer Patientin zurück, dann hören wir, daß sie bereits in der Schule, wenn sie ihre Aufgabe nicht konnte, in außerordentliche Aufregung geriet und dadurch die Lehrer zwang, mit ihr recht zart zu verfahren. Dazu gibt sie noch folgendes an: Sie war die älteste von drei Geschwistern, ihr folgte ein Bruder, nach diesem wieder ein Mädchen. Mit dem Bruder gab es immer Kämpfe. Er erschien ihr immer als der Bevorzugte und ganz besonders ärgerte es sie, daß man seine Schulleistungen stets mit großer Aufmerksamkeit verfolgte, während sie, die anfangs eine gute Schülerin war, mit ihren guten Leistungen einer derartigen Gleichgültigkeit begegnete, daß sie es kaum mehr vertrug und fortwährend nachgrübelte, warum hier mit ungleichem Maß gemessen werde.
Wir verstehen bereits, daß dieses Mädchen nach der Parität suchte, daß sie von Kindheit an ein starkes Minderwertigkeitsgefühl gehabt haben mußte, das sie auszugleichen trachtete. In der Schule tat sie das auf die Weise, daß sie eine schlechte Schülerin wurde. Sie versuchte durch schlechte Schulerfolge den Bruder zu übertreffen, nicht etwa im Sinne einer höheren Moral, sondern in ihrem kindlichen Sinn, um die Aufmerksamkeit der Eltern besonders stark auf sich zu lenken. Ein wenig bewußt sind diese Vorgänge doch gewesen, denn heute stellt sie ganz deutlich fest, sie wollte eine schlechte Schülerin werden. Aber auch um ihre schlechten Schulerfolge kümmerten sich die Eltern nicht im geringsten. Und da geschah wieder etwas Interessantes: sie zeigte plötzlich wieder gute Schulerfolge. Aber nun trat ihr jüngstes Geschwister, ihre Schwester, in auffälliger Weise in Szene. Auch diese hatte nämlich schlechte Schulerfolge, aber um sie kümmerte sich die Mutter fast ebensosehr wie um den Bruder, und zwar aus einem merkwürdigen Grund: während unsere Patientin nur in den Lehrfächern schlechte Noten hatte, war die Schwester in Sitten schlecht qualifiziert. Auf diese Weise gelang es dieser viel besser, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, weil ja schlechte Noten in Sitten einen ganz anderen sozialen Effekt haben. Sie sind mit besonderen Maßnahmen verbunden, die die Eltern zwingen, sich stärker um das Kind zu bekümmern.
Der Kampf um die Parität war also vorläufig gescheitert. Wir müssen nun daran festhalten, daß das Scheitern eines Kampfes um die Gleichwertigkeit nie dazu führt, daß nun ein Ruhepunkt in diesem Prozeß eintritt. Kein Mensch verträgt eine solche Situation. Von hier aus werden immer wieder neue Regungen ablaufen und neue Bemühungen einsetzen, die dazu beitragen, das Charakterbild dieses Menschen zu formen. Wir verstehen jetzt wieder um etwas besser dieses Geschichtenmachen, das Hasten, das Bestreben, sich den andern immer als bedrückt und überlastet hinzustellen. Ursprünglich