Gesammelte Werke. Alfred Adler

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Gesammelte Werke - Alfred  Adler

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handelt, über die deren Träger meist nicht viel aussagen kann. Ein aufmerksamer Mensch wird selten sagen können, warum er z. B. sofort alles sehe. Es gibt also Fähigkeiten des seelischen Organs, die nicht im Bereich des Bewußtseins zu suchen sind. Obwohl auch eine bewußte Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grade zu erzwingen ist, sitzt doch die Anregung für die Aufmerksamkeit nicht im Bewußtsein, sondern im Interesse und dieses wieder liegt zum größten Teil in der Sphäre des Unbewußten. Dieses ist in seinem ganzen Umkreis eine Leistung des seelischen Organs und zugleich der stärkste Faktor im seelischen Leben. Dort sind die Kräfte zu suchen und zu finden, die die Bewegungslinie eines Menschen, seinen (unbewußten) Lebensplan ausgestalten. Im Bewußtsein ist nur ein Abglanz, manchmal sogar das Gegenteil davon vorhanden. So wird z. B. ein eitler Mensch in den meisten Fällen von seiner Eitelkeit keine Ahnung haben, sondern sich im Gegenteil so verhalten, daß seine Bescheidenheit jedem in die Augen springt. Um eitel zu sein, ist es eben gar nicht nötig, es auch zu wissen und sich klarzumachen. Ja, es ist für den Zweck dieses Menschen nicht einmal gut, denn sonst könnte er gar nicht so handeln. Er gewinnt seine schauspielerhaft anmutende Sicherheit vielfach nur, wenn er von seiner Eitelkeit nichts sieht und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkt. So verläuft der ganze Prozeß größtenteils im dunkeln. Versucht man mit ihm darüber zu sprechen, so wird man bemerken, daß ein Gespräch darüber sehr schwer zustandekommt, weil er die Neigung hat, sich umzudrehen, auszukneifen, um gleichsam nicht gestört zu werden. Das kann aber unsere Auffassung nur erhärten. Dieser Mensch will sein Spiel weiterspielen und empfindet jeden, der den Schleier davon lüften will, als Störenfried, gegen den er sich nun zu Wehr setzt.

      Nach dieser Verhaltungsweise kann man die Menschen auch einteilen in solche, die von den Vorgängen in ihrem Innern mehr wissen oder weniger als der Durchschnitt, deren Bewußtseinskreis also größer oder kleiner ist. In den meisten Fällen wird sich dies damit decken, daß einer auf einen kleineren Kreis des Lebens konzentriert oder daß er vielseitig angeschlossen ist und für einen größeren Kreis des menschlichen Lebens und des Weltgeschehens Interesse hat. Wir können auch schon verstehen, daß meist jene, die sich bedrängt fühlen, zu denen gehören werden, die sich auf einen kleinen Ausschnitt des Lebens beschränken, daß jene, die dem Leben etwas abgewandt sind, die Fragen des Lebens nicht mit solcher Klarheit sehen wie andere, die gute Mitspieler sind. Sie werden die Feinheiten nicht so erfassen können, weil sie nur ein begrenztes Interesse haben, sie werden von einer Lebensfrage nur einen kleinen Teil sehen und den Gesamtumfang derselben nicht recht durchleuchten können, weil sie vermeiden, damit nur Kraft zu vergeuden. In bezug auf die Einzelerscheinungen des Lebens kann man oft wahrnehmen, daß einer von seinen Fähigkeiten für das Leben nichts weiß, daß er sie unterschätzt, aber auch über seine Fehler nicht hinreichend unterrichtet ist, sich etwa für einen guten Menschen hält, während er in Wirklichkeit alles aus Egoismus tut, oder daß er sich umgekehrt für einen Egoisten hält, während man bei näherer Beschäftigung mit ihm darauf kommt, daß es ein Mensch ist, mit dem sich ganz gut reden läßt. Sowie es überhaupt nicht darauf ankommt, was einer von sich denkt (oder was sich andere von ihm denken), sondern auf seine Gesamtstellungsnahme innerhalb der menschlichen Gesellschaft, von der alles, was er in dieser Welt will und was ihn daran interessiert, bestimmt und geleitet wird.

      Es handelt sich in der Tat um zwei Typen von Menschen. Die einen sind solche, die bewußter leben, den Lebensfragen objektiver gegenüberstehen, keine Scheuklappen tragen und solche, die mit einer vorgefaßten Meinung nur ein kleines Stück des Lebens und der Welt erblicken, die sich immer unbewußt dirigieren und unbewußt argumentieren. So kann es geschehen, daß zwei Menschen, die miteinander leben, dadurch Schwierigkeiten finden, daß der eine forwährend in der Opposition ist, ein nicht seltener Fall, der bezüglich seiner Häufigkeit vielleicht noch von jenem Fall übertroffen wird, daß beide Teile fortwährend in Opposition sind. Der Betreffende weiß nichts davon, er glaubt sogar und bringt auch Argumente dafür, daß er immer für den Frieden eintrete und daß er die Eintracht aufs höchste schätze. Aber die Tatsachen widerlegen ihn und in Wirklichkeit findet man, daß der eine kaum ein Wort sagen kann, ohne daß ihm der andere in die Flanke fällt und eine Gegenbemerkung macht und wäre diese äußerlich noch so unscheinbar und unauffällig. Genauer betrachtet ergibt sich, daß sie von einer feindseligen, kriegerischen Stimmung eingegeben ist.

      So entwickeln viele Menschen in sich Kräfte, die wirksam sind, ohne daß sie etwas davon wissen. Diese im Unbewußten liegenden Kräfte beeinflussen das Leben der Menschen und können, wenn sie nicht aufgedeckt werden, zu schweren Folgen führen. Dostojewski hat einen solchen Fall in seinem Roman »Der Idiot« in einer Weise dargestellt, die immer die Bewunderung der Psychologen erregt hat. Es ist die Begebenheit, bei der eine Dame gelegentlich einer gesellschaftlichen Zusammenkunft zu einem Fürsten, der Hauptperson des Romans, in etwas stichelndem Ton sagte, er möge acht geben, daß er nicht die kostbare chinesische Vase in seiner Nähe umwerfe, worauf er versicherte, er werde acht geben. Aber einige Minuten später lag die Vase schon zerbrochen am Boden. Niemand von der Gesellschaft hat darin einen Zufall erblicken wollen, sondern eine ganz folgerichtige Handlung, die aus dem ganzen Charakter dieses Menschen, der sich durch die Worte der Dame beleidigt gefühlt hatte, entsprungen war.

      Bei der Beurteilung eines Menschen sind wir nicht nur darauf angewiesen, aus seinen bewußten Handlungen und Äußerungen Schlüsse zu ziehen. Sehr oft sind wir von kleinen Details in seinem Denken und Handeln, die ihm entgehen, viel richtiger und sicherer geleitet. So wissen z. B. Menschen, die auffällige Unarten, wie Nägelbeißen, Nasenbohren u. dgl. aufweisen, gar nicht, daß sie damit verraten, daß sie trotzige Menschen sind, weil sie die Zusammenhänge nicht kennen, die zu diesen Unarten führen. Denn es ist klar, daß ein Kind wegen derlei Unarten wiederholt ermahnt worden sein muß, und, wenn es trotzdem nicht davon ließ, ein trotziger Mensch sein muß. Wäre unser Blick geübter, dann müßten wir aus allen Bewegungen eines Menschen die weitgehendsten Schlüsse ziehen können, ohne daß jemand etwas davon weiß. Denn auch in allen diesen Kleinigkeiten steckt sein ganzes Wesen.

      Zwei Fälle sollen zeigen, welche Bedeutung es hat, daß die im folgenden darzustellenden Vorgänge unbewußt geblieben sind und es bleiben mußten, daß also die menschliche Seele die Fähigkeit hat, das Bewußtsein zu dirigieren, d. h. etwas bewußt zu machen, wenn es für den Standpunkt der seelischen Bewegung notwendig ist und umgekehrt, etwas im Unterbewußtsein zu belassen oder es unbewußt zu machen, wenn dies für den gleichen Zweck erforderlich erscheint.

      Im ersten Fall handelt es sich um einen jungen Mann, der als Erstgeborener neben einer Schwester aufwuchs, dessen Mutter gestorben war, als er im 10. Lebensjahr stand. Von da an mußte der Vater, ein sehr intelligenter, wohlwollender und ethisch sehr hochstehender Mann, die Erziehung leiten, wobei er immer bestrebt war, den Ehrgeiz des Sohnes zu entfalten und anzuspornen. Dieser trachtete auch immer, in der vordersten Reihe zu stehen, entwickelte sich ausgezeichnet und stand tatsächlich in bezug auf seine ethischen und wissenschaftlichen Qualitäten in seinem Kreis immer an erster Stelle, sehr zur Freude seines Vaters, von dem er schon frühzeitig ausersehen worden war, im Leben eine wichtige Rolle zu spielen.

      Im Verhalten dieses jungen Mannes zum Leben trat aber so manches in Erscheinung, das dem Vater Sorge machte und das er zu ändern suchte. Dem Burschen war in seiner Schwester eine hartnäckige Rivalin erwachsen. Sie entwickelte sich ebenfalls sehr gut und war immer bestrebt, mit den Waffen des Schwächeren zu siegen und ihre Geltung auf Kosten des Bruders zu vergrößern. Sie gewann auch ziemlich Raum in der kleinen Häuslichkeit und für den Bruder war dieser Kampf ein hartes Stück Arbeit. Bei ihr konnte er nicht erreichen, was ihm sonst so leicht fiel zu erreichen, Ansehen, Geltung und eine gewisse Unterordnung, wie sie ihm zufolge seiner Fortschritte von Seiten seiner Kollegen regelmäßig zuteil wurde. Der Vater bemerkte bald, daß der Junge, besonders als er in die Pubertät kam, im gesellschaftlichen Leben eine sonderbare Art annahm, die kurz darin bestand, daß er überhaupt nicht gesellschaftlich wurde, eine Abneigung bekundete, mit Bekannten oder gar fremden Leuten zusammenzukommen und geradezu Reißaus nahm, wenn es sich um Bekanntschaften mit Mädchen handelte. Anfangs schien dies dem Vater recht zu sein. Später nahmen aber diese Erscheinungen solche Dimensionen an, daß der Junge fast gar nicht mehr aus dem Haus ging, daß ihm sogar Spaziergänge, außer in späten Abendstunden, unangenehm wurden.

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