Gesammelte Werke. Alfred Adler
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2. Ausgleich des Minderwertigkeitsgefühls, Streben nach Geltung und Überlegenheit
Das Gefühl der Minderwertigkeit, der Unsicherheit, der Unzulänglichkeit ist es, das die Zielsetzung im Leben erzwingt und ausgestalten hilft. Bereits in den ersten Tagen der Kindheit macht sich der Zug bemerkbar, sich in den Vordergrund zu drängen, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken, zu erzwingen. Das sind die ersten Anzeichen für das erwachte Geltungsstreben des Menschen, das sich unter der Einwirkung des Minderwertigkeitsgefühls entwickelt und das Kind dazu führt, sich ein Ziel zu setzen, bei dem es der Umwelt überlegen erscheint.
Mitbestimmt wird die Setzung des Zieles der Überlegenheit durch die Größe des Gemeinschaftsgefühls. Wir können kein Kind, keinen Erwachsenen beurteilen, wenn wir nicht einen Vergleich ziehen zwischen dem in ihm vorhandenen Gemeinschaftsgefühl und dem Beitrag seines Strebens nach Macht und Überlegenheit über die andern. Das Ziel wird so aufgestellt, daß seine Erreichung die Möglichkeit bietet, Überlegenheit zu fühlen oder die eigene Persönlichkeit soweit zu heben, daß das Leben lebenswert erscheint. Dieses Ziel ist es auch, das den Empfindungen ihren Wert verleiht, die Wahrnehmungen lenkt und beeinflußt, die Vorstellungen gestaltet und die schöpferische Kraft leitet, mit der wir die Vorstellungen schaffen, Erinnerungen ausgestalten oder beiseite schieben. Und wenn man bedenkt, daß nicht einmal die Empfindungen absolute Größen sind, sondern ebenfalls schon von der Zielstrebigkeit beeinflußt sind, die das Seelenleben erfüllt, wenn man sich ferner vor Augen hält, daß unsere Wahrnehmungen immer mit Auswahl, in einer bestimmten geheimen Absicht erfolgen, daß die Vorstellungen ebenfalls nicht absolute Werte enthalten, sondern von diesem Ziel beeinflußt sind, daß wir ferner jedem Erlebnis immer die Seite abzugewinnen suchen, die uns geeignet erscheint, unser Ziel weiter im Auge zu behalten, dann ist es verständlich, daß auch hier weiter alles relativ bleibt und nur der Schein von feststehenden, sicheren Werten erübrigt. Im Sinne einer Fiktion, in einer Art von wirklicher Schöpferkraft hängen wir uns an einen feststehenden Punkt, den es in der Wirklichkeit nicht gibt. Diese Annahme, eigentlich bedingt durch eine Mangelhaftigkeit des menschlichen Seelenlebens, gleicht vielen Versuchen in Wissenschaft und Leben, wie etwa dem, die Erdkugel in Meridiane einzuteilen, die es nicht gibt, aber als Annahmen großen Wert haben. In allen Fällen seelischer Fiktionen haben wir es mit Erscheinungen folgender Art zu tun: wir nehmen einen fixen Punkt an, obwohl wir uns bei näherer Betrachtung überzeugen müssen, daß er nicht besteht. Wir tun das aber nur, um eine Orientierung im Chaos des Lebens zu gewinnen, um eine Rechnung ansetzen zu können. Alles, von der Empfindung angefangen, wird von uns in ein berechenbares Gebiet hineinversetzt, in dem wir handeln können. Dies ist der Vorteil, den uns die Annahme eines feststehenden Zieles bei Betrachtung eines menschlichen Seelenlebens bietet.
So entwickelt sich aus diesem Vorstellungskreis der Individualpsychologie eine heuristische Methode: das menschliche Seelenleben zunächst so zu betrachten und zu verstehen, als ob es aus angeborenen Potenzen unter dem Einfluß einer Zielsetzung zu seiner späteren Beschaffenheit herangewachsen wäre. Unsere Erfahrung und unsere Eindrücke festigen aber in uns die Überzeugung, daß diese heuristische Methode mehr als ein Hilfsmittel der Forschung vorstellt, daß sie sich in ihren Grundlagen im weitesten Ausmaß mit wirklichen Vorgängen der seelischen Entwicklung deckt, die teils bewußt erlebt werden, teils aus dem Unbewußten zu erschließen sind. Die Zielstrebigkeit der Psyche ist demnach nicht bloß unsere Anschauungsform, sondern auch eine Grundtatsache.
Hinsichtlich der Frage, wie dem Streben nach Macht, diesem hervorstechendsten Übel in der Kultur der Menschheit, am vorteilhaftesten begegnet und entgegengewirkt werden kann, liegt die Schwierigkeit darin, daß man sich in der Zeit, in der dieses Streben entsteht, mit dem Kind schwer verständigen kann. Man kann erst viel später beginnen, Klarheit zu schaffen und in eine fehlerhafte Entwicklung bessernd einzugreifen. Doch bietet das Zusammenleben mit dem Kinde in dieser Zeit hierzu die Möglichkeit, indem man das bei jedem Kind vorhandene Gemeinschaftsgefühl derart entfaltet, daß das Machtstreben nicht übermächtig werden kann. Eine weitere Schwierigkeit ist die, daß auch schon die Kinder von ihrem Machtstreben nicht ganz offen sprechen, sondern es verbergen und, unter Vorgabe von Wohlwollen und zärtlichen Gefühlen, in heimlicher Art ins Werk zu setzen versuchen. Schamhaft vermeiden sie, dabei ertappt zu werden. Das ungehemmte Streben nach Macht, das sich zu verstärken sucht, erzeugt Ausartungen in der Entwicklung des kindlichen Seelenlebens, so daß im überspitzten Drang, zu Sicherheit und Macht zu gelangen, aus Mut Frechheit, aus Gehorsam Feigheit werden kann und aus Zärtlichkeit eine List, den andern zum Nachgeben, zum Gehorsam, zur Unterwerfung zu bringen und alle Charakterzüge neben ihrer offen zutageliegenden Natur noch einen Zuschuß von listigem Begehren nach Überlegenheit bekommen können.
Die bewußte Erziehung, die auf das Kind einwirkt, handelt unter dem bewußten oder unbewußten Impuls, dem Kind aus seiner Unsicherheit herauszuhelfen, es für das Leben mit Geschicklichkeit, Wissen, geschultem Verständnis und mit Gefühl für andere auszustatten. Alle diese Maßnahmen, von welcher Seite immer sie kommen, sind zunächst als Versuche zu verstehen, für das heranwachsende Kind neue Wege zu schaffen, auf denen es von seinem Unsicherheitsund Minderwertigkeitsgefühl loskommen kann. Was sich nun beim Kind abspielt, geht auf dem Weg von Charakterzügen vor sich, die der Ausdruck dafür sind, was sich in der Seele des Kindes abspielt.
Der Wirkungsgrad des Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühls hängt hauptsächlich von der Auffassung des Kindes ab. Gewiß ist der objektive Grad der Minderwertigkeit bedeutsam und wird sich dem Kind fühlbar machen. Man darf aber nicht erwarten, daß das Kind in dieser Hinsicht auch richtige Abschätzungen vornimmt, so wenig, wie dies bei Erwachsenen der Fall ist. Aus diesem Grund wachsen nun die Schwierigkeiten ganz gewaltig. Das eine Kind wächst in so komplizierten Verhältnissen auf, daß ein Irrtum über den Grad seiner Minderwertigkeit und Unsicherheit fast selbstverständlich ist. Ein anderes Kind wird seine Situation besser abschätzen können. Im großen und ganzen aber ist immer das Gefühl des Kindes in Betracht zu ziehen, das täglich schwankt, bis es schließlich in irgendeiner Art eine Konsolidierung erfährt und sich als Selbsteinschätzung äußert. Danach, wie diese ausfällt, wird der Ausgleich, die Kompensation beschaffen sein, die das Kind für sein Minderwertigkeitsgefühl sucht, dementsprechend also wird auch die Zielsetzung vor sich gehen.
Der seelische Mechanismus des Kompensationsstrebens, demzufolge das seelische Organ auf ein Gefühl der Minderwertigkeit immer mit dem Bestreben antwortet, dieses quälende Gefühl auszugleichen, hat eine Analogie im organischen Leben. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß lebenswichtige Organe, wenn sie eine Schwäche aufweisen, sofern sie nur lebensfähig sind, mit einer außerordentlichen Vermehrung ihrer Kraftleistungen zu antworten beginnen. So wird bei Schwierigkeiten, die den Blutkreislauf bedrohen, das Herz mit verstärkten Kräften arbeiten,