Gesammelte Werke. Alfred Adler
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Alfred Adler страница 61
Für den Umfang dieser Vorstellungen, für die Größe der Phantasie lassen sich keine Regeln aufstellen oder mit anderen Worten: Man darf auch hier nicht in den Fehler verfallen zu generalisieren. Das oben Gesagte gilt für eine große Anzahl von Fällen, kann sich aber in einzelnen Fällen auch als anders geartet feststellen lassen. Es ist naheliegend, daß jene Kinder ihre Phantasie stärker entwickeln werden, die das Leben mit feindlichen Augen betrachten, mit welcher Einstellung gewöhnlich auch eine stärkere Anspannung der Vorsicht verbunden ist. So haben schwächliche Kinder, denen das Leben so manches Üble bietet, eine verstärkte Phantasie und die Neigung, sich mit Phantasien zu beschäftigen. In weiterer Folge tritt oft ein Entwicklungsstadium ein, in dem die Phantasie zuhilfe genommen wird, um sich aus dem realen Leben herauszuschleichen, also die Phantasie gleichsam für die Verurteilung des realen Lebens benutzt erscheint. Sie ist dann der Machtrausch eines Menschen, der sich über die Niedrigkeit des Lebens erhoben hat.
Nicht nur die Machtlinie allein ist es, die man in den Phantasien feststellen kann, auch das Gemeinschaftsgefühl spielt in ihnen eine große Rolle. Die Kinderphantasien sehen fast nie so aus, daß nur die Macht des Kindes darin zur Geltung kommt, sondern diese Macht erscheint irgendwie als zum Nutzen anderer mitverwendet. Das ist z. B. der Fall bei Phantasien, deren Inhalt darin gipfelt, ein Retter zu sein, ein Helfer, ein Sieger über ein den Menschen schädliches Ungetüm u. dgl. Häufig vorzufinden ist die Phantasie, nicht aus der Familie zu sein, in der man aufwächst. Eine Menge Kinder hält den Gedanken fest, daß sie eigentlich aus einer andern Familie stammen, daß sich eines Tages die Wahrheit zeigen und der wirkliche Vater (immer irgendeine hohe Persönlichkeit) kommen und sie abholen werde. Dies ist meist bei Kindern der Fall, die ein starkes Minderwertigkeitsgefühl haben, die Entbehrungen ausgesetzt sind, Zurücksetzungen zu erdulden haben oder die mit der Zärtlichkeit ihrer Umgebung unzufrieden sind. Oft verraten sich solche Größenideen schon in der äußeren Haltung der Kinder, die so tun, als ob sie schon erwachsen wären. Beinahe krankhafte Ausartungen der Phantasie findet man in der Form, daß z. B. ein Kind eine besondere Vorliebe für steife Hüte oder für Zigarrenspitzen empfindet, oder wenn Mädchen sich vornehmen ein Mann zu werden. Es gibt viele Mädchen, die eine Haltung oder Kleidung vorziehen, die eher für Knaben passen würde.
Es gibt auch Menschen, von denen geklagt wird, sie hätten zu wenig Phantasie. Das ist sicher ein Fehlschluß. Entweder äußern sich solche Kinder nicht oder es liegen andere Gründe vor, aus denen sie sogar dazu gelangen können, einen Kampf gegen das Auftauchen von Phantasien zu führen. Es kann sein, daß ein Kind darin ein Stärkegefühl empfindet. In einem krampfhaften Bestreben, sich der Wirklichkeit anzupassen, erscheint diesen Kindern die Phantasie als unmännlich oder kindisch und wird von ihnen abgelehnt. Es gibt Fälle, bei denen diese Ablehnung zu weit geht und die Phantasie fast vollkommen zu fehlen scheint.
4. Träume (allgemeines)
Außer den oben beschriebenen Tagträumen gibt es noch eine andere, sehr früh auftauchende Erscheinung, die eine große Wirksamkeit verrät und auch entfaltet. Es sind die Schlafträume. Im allgemeinen kann man feststellen, daß sich in ihnen die gleiche Methode des Kindes, zu träumen, wiederfindet, wie in den Tagträumen. Alte, erfahrene Psychologen haben darauf hingewiesen, daß sich aus den Träumen des Menschen sein Charakter leicht enthüllen lasse. In der Tat ist der Traum eine Erscheinung, die das Denken des Menschen zu allen Zeiten außerordentlich in Anspruch genommen hat. Wie die Tagträume Erscheinungen sind, die das Voraussehenwollen begleitet, die auftreten, wenn sich der Mensch damit beschäftigt, einen Weg in die Zukunft zu bahnen und ihn sicher zu gehen, so ist es auch mit den Schlafträumen. Der auffallende Unterschied ist, daß man Tagträume zur Not noch versteht, während dies bei den andern Träumen sehr selten der Fall ist. Diese Unverständlichkeit ist eine besondere Merkwürdigkeit und man wird leicht versucht sein, darin ein Zeichen der Oberflüssigkeit solcher Erscheinungen zu vermuten. Vorläufig sei hervorgehoben, daß sich auch in den Träumen wieder dieselbe Machtlinie eines Menschen zeigt, der die Zukunft festhalten will, der vor einer Frage steht und deren Bewältigung anstrebt. Sie liefern uns bei der Betrachtung des Seelenlebens wichtige Handhaben, auf die wir noch zurückkommen werden.
5. Einfühlung
Bei der Funktion des Voraussehens, die bei beweglichen Organismen eine unerläßliche Notwendigkeit ist, weil sie immer vor Fragen der Zukunft gestellt sind, kommt dem seelischen Organ noch die Fähigkeit zu Hilfe, nicht nur zu empfinden, was in der Wirklichkeit ist, sondern auch zu fühlen, zu erraten, was etwa in der Zukunft sein wird. Man nennt diesen Vorgang »Einfühlung«. Diese Fähigkeit ist bei den Menschen außerordentlich stark entwik-kelt. Sie ist ein so weit reichender Vorgang, daß man sie an jeder Stelle des Seelenlebens findet. Bedingung ist auch hier die Notwendigkeit zur Voraussicht; denn wenn ich genötigt bin, mir vorzustellen, zu denken, wie ich mich im Falle einer auftauchenden Frage benehmen werde, so bin ich auch gezwungen, über jene Empfindungen ein festes Urteil zu bekommen, die sich aus der gegenwärtig noch nicht herangereiften Situation ergeben könnten. Erst durch das Zusammenfassen des Denkens, Fühlens und Empfindens einer erst zu erlebenden Situation kann wieder ein Standpunkt gewonnen werden, etwa der, einen bestimmten Punkt entweder mit besonderer Kraft anzustreben, oder ihm mit besonderer Vorsicht auszuweichen. Einfühlung kommt schön zustande, wenn man mit jemand spricht. Es ist unmöglich, mit einem Menschen Fühlung zu bekommen, wenn keine Einfühlung in die Lage des andern vorhanden ist. Eine besondere künstlerische Ausgestaltung erfährt die Einfühlung im Schauspiel. Weitere Erscheinungen der Einfühlung sind die Fälle, in denen den Menschen ein eigentümliches Gefühl überkommt, wenn er merkt, daß einem andern irgendeine Gefahr droht. Hier ist die Einfühlung manchmal so stark, daß man unwillkürlich selbst, obwohl nicht gefährdet, Abwehrbewegungen ausführt. Bekannt ist ferner die zurückziehende Bewegung, die man mit der Hand ausführt, wenn man z. B. ein Glas fallen läßt. Oft kann man beim Kegelschieben beobachten, wie einzelne Spieler gleichsam die Bewegung der Kugel mitmachen wollen, sie mit ihrem ganzen Körper vorwegnehmen, als ob sie deren Lauf dadurch beeinflussen wollten. Weitere Erscheinungen sind die Gefühle, von denen man befallen wird, wenn man jemand in einem hochgelegenen Stockwerk Fenster putzen sieht, oder wenn man erlebt, daß ein Redner das Unglück hat, stecken zu bleiben. Im Theater wird man es kaum vermeiden können, mitzufühlen und die verschiedensten Rollen in seinem Innern mitzuspielen. — Unser gesamtes Erleben hängt also mit der Einfühlung innig zusammen.
Suchen wir danach, wo diese Funktion ihren Ursprung hat, diese Möglichkeit, so zu empfinden, als ob man ein anderer wäre, so finden wir die Erklärung nur in der Tatsache des angeborenen Gemeinschaftsgefühls. Diese ist eigentlich ein kosmisches Gefühl, ein Abglanz des Zusammenhanges alles Kosmischen, das in uns lebt, dessen wir uns nicht ganz entschlagen können und das uns die Fähigkeit gibt, uns in Dinge einzufühlen, die außerhalb unseres Körpers liegen.
Wie