Luisas Chance. Carola Wegerle
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Читать онлайн книгу Luisas Chance - Carola Wegerle страница 5
„Halt, das hab‘ ich vergessen“, ruft die Frau am Tisch ihr hinterher. Luisa dreht sich um. Die Frau klebt ihr ein Blatt mit einer Nummer auf die Brust. 27, liest Luisa.
„Bin ich die Siebenundzwanzigste, die vorspricht?“, fragt sie ungläubig.
Die Frau nickt. „Bei 35 machen wir Schluss. Die da drin können nicht mehr!“
Sie deutet mit dem Kopf nach links. Dort sieht Luisa eine große eiserne Tür. Ruhe bitte Probe steht darauf. Die Tür wird jetzt aufgerissen, das Mädchen mit der Nummer 23 geht darauf zu, kalkweiß im Gesicht. Ein Mann erscheint im Türrahmen.
„Noch ‘ne Kanne Kaffee, bitte“, sagt er zu der Frau am Tisch. Die drückt ihm sofort eine Wärmhaltekanne in die Hand. Die Tür schließt sich hinter dem kalkweißen Mädchen, dem Mann und dem Kaffee. Ob die da drin 35 Mädchen auseinanderhalten können? Luisa bezweifelt es. Woher kommen auf einmal die Schmetterlinge in ihrem Magen? Und so viele? Sie entdeckt eine weitere Tür in dem langen Gang: WC steht darauf. Schnell öffnet sie die Tür, bleibt aber dann
wie angewurzelt stehen. Denn am Waschbecken übergibt sich stöhnend ein Mädchen. Der Glitzerstein in ihrem Bauchnabel wackelt jedes Mal. Jetzt wollen alle Schmetterlinge in Luisas Bauch auf einmal hinaus. Durch ihre Kehle. Schnell zieht sie die Tür wieder zu. Sie schluckt. Und schluckt. Jetzt nicht, sagt sie streng zu ihren Schmetterlingen.
Jetzt geht es nicht. Sie bleibt im Gang stehen, mit großen konzentrierten Augen, als sich die schwere Tür aus Eisen wie- der öffnet. Das kalkweiße Mädchen hat die Farbe gewechselt: sein Gesicht ist rot geworden. Mit eingezogenem Kopf huscht es an Luisa vorbei, durch die Tür zum Hof und weiter, weg von den anderen Mädchen, die immer noch dort stehen.
„Du da“, sagt der Mann, der vorhin Kaffee wollte, „komm’ doch mal her.“ Luisa blickt sich um. Aber hinter ihr steht niemand.
„Ich?“, fragt sie verdutzt. Ist sie denn schon dran?
„Ja, komm’ her.“ Der Mann winkt ihr ungeduldig zu. Luisa fragt sich, ob er vielleicht einen Magneten bei sich trägt, der sie anzieht – ganz leicht fühlt sie sich, als sie auf ihn zugeht. Der Mann schließt die Tür hinter ihr. Sie steht in einem großen Raum. In der Mitte liegt eine Matratze. Hinten an der Wand sitzen neun Leute. Sie blicken Luisa erwartungsvoll an.
„Wie heißt du?“, fragt ein Mann, der in der Mitte sitzt. Luisa geht auf ihn zu und sagt: „Luisa.“
„Süß“, sagt eine Frau. Luisa zieht hörbar den Atem ein. Was ist denn so süß daran, wenn sie ihren Namen sagt, ärgert sie sich. „Heimann“, fügt sie hinzu.
„In die wievielte Klasse gehst du?“
„In die achte“, antwortet Luisa. Sie muss sich dabei räuspern.
„Okay, dann werden wir mal“, sagt ein anderer Mann, der vielleicht so alt ist wie Luisas Vater. „Ich bin der Tobias, ich inszeniere das Stück. Ich erkläre dir kurz, was du spielen sollst.“ Er geht zu der Matratze. Luisa folgt ihm. Ob ich kämpfen muss? fragt sie sich. Boxen und so? Da war doch gerade dieser Film im Kino mit der erfolgreichen Boxerin … Die Matratze haben sie sicher hingelegt, damit man sich nicht weh- tut, wenn man hinfällt, vermutet sie.
Der Mann kniet sich auf die Matratze. Luisa bleibt erstmal stehen. „Komm‘ her“, sagt der Mann. Zögernd setzt sie sich zu ihm. „Unser Stück ist neu und sehr traurig“, erklärt er ihr mit sehr traurigen Augen, die sie intensiv anblicken. Fast durch mich durch, denkt Luisa. Sie fühlt sich nicht besonders wohl. Soll ich ihn zurück angucken oder besser nicht, überlegt sie fieberhaft. Doch, ja, das macht man einfach, sonst ist es unhöflich. Ihre Gedanken jagen sich, während der Mann redet und redet. Ob die hinter dem Tisch wieder irgendwas an ihr süß finden? Sie hat auf einmal klatschnasse Hände. Was tut sie eigentlich hier? Was für eine blöde Idee war das denn, hierherzukommen? Johanna spielen? Darum ging es hier ja wohl nicht.
„Es geht um einen Juden“, fährt Tobias ernst fort, „einen jungen Juden, der vor ungefähr hundert Jahren in einer wohlhabenden Familie aufwächst. Das Stück beginnt 1913. Er emigriert später in die USA und bringt sich dort in einem Hotelzimmer um.“ Luisas Augen werden riesengroß. Wie furchtbar! Das soll ein Theaterstück sein? Das wollen sie spielen? Wie sich jemand umbringt? Erschrocken hält sie den Atem an. Du bist ein freier Mensch, hat Verena gesagt. Ja, denkt sie, ich kann aufstehen und gehen, einfach gehen, wenn
ich keine Lust mehr habe, ich bin ein freier Mensch. Doch sie bleibt sitzen. Erstmal.
„Sein Problem ist, dass er sich ganz als Deutscher fühlt und nicht in sein Hirn bekommt, dass Hitler die Juden hasst. – Ähm, habt ihr das schon in Geschichte gehabt?“ unterbricht er sich. Luisa schüttelt den Kopf.
„Noch nicht, aber das mit den Juden weiß ich schon.“
„Okay“, sagt der Regisseur und blickt sie noch intensiver an. „Der Mann hat eine Schwester, die er sehr liebt. Er liebt sie mehr als eine Schwester, verstehst du?“ Luisa wird rot, ist sich aber nicht sicher, wie er das meint.
„Diese Schwester wird von einer Schauspielerin gespielt, wenn sie älter ist. Wenn sie in deinem Alter ist, spielst du sie. - Du bist 14 und liebst deinen Bruder auch sehr. Ihr habt einen Ausflug mit der Familie gemacht. Du und dein Bruder, ihr habt Federball gespielt – kannst du das?“
Luisa nickt. Sie lächelt. Federball kann sie gut! Soll sie Federball spielen? Hier, gleich jetzt? Ihre Augen blitzen unternehmungslustig. Vielleicht macht Theater ja doch Spaß?
„Gut“, fährt der Regisseur fort, „und dann seid ihr müde und liegt im Gras und ruht euch aus – Konstantin!“ ruft er. Ein blonder Schauspieler taucht hinter einem Paravent auf, der an der Seite des Raumes steht. Er sieht wie ein Filmstar aus, findet Luisa.
Leider benimmt er sich auch wie ein verwöhnter Star. Er blickt sie nicht an, lässt sich nur mit leichtem Stöhnen auf die Matratze fallen.
„Leg dich zu ihm“, sagt der Regisseur, „kuschle dich an ihn.“ Luisa glaubt, sie hat sich verhört. Sie soll was tun? Der Schauspieler starrt an die Decke, der Blick des Regisseurs schweift in die Ferne. „Stell‘ dir vor, du bist ein wenig müde, es ist heiß, du hast Erdbeerbowle getrunken und bist ein bisschen beschwipst.“ Luisa schluckt. Er meint es ernst. Sie blickt den blonden Schauspieler an, der immer noch an die Decke starrt, dann diesen Mann, der Tobias heißt, und sie hat wirklich das Gefühl, ein bisschen beschwipst zu sein. Dann blickt sie zu den Leuten am Tisch, für die die kleine Gruppe auf der Matratze sehr interessant zu sein scheint.
Ihr wird heiß. Sie soll sich an den fremden Mann kuscheln? Nein. Das will sie nicht. Sie ist ein freier Mensch, sie kann gehen, wenn sie keine Lust hat. Abrupt steht sie auf. Einfach rausgehen? Ihre Beine sind plötzlich wie gelähmt. Und ihr Kopf ist – nur noch Nebel.
„Lass mal, Tobias“, sagt die Frau, die sie vorhin so süß gefunden hat. Sie steht jetzt neben der Matratze. Wann ist sie aufgestanden? Sanft berührt sie Luisas Schulter.
„Keine Angst“, lächelt sie, „das hier ist ein anständiges Theater. So Sachen mit Sex und so zeigen wir hier nicht. Das verlangt keiner von dir. Ich bin Ursula und leite dieses Haus.“ Ihre Augen sind warm, stellt Luisa fest und entspannt sich ein bisschen.
„Der Mann - im Stück dein Bruder - erzählt die