Luisas Chance. Carola Wegerle
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Читать онлайн книгу Luisas Chance - Carola Wegerle страница 6
„Wie viele sind es noch?“ unterbricht der blonde Mann und gähnt. „Ihr wisst, ich habe Abendvorstellung.“
„Noch ein paar Minuten Geduld, Konstantin“, sagt Ursula bestimmt.
Tobias guckt verstört von Ursula zu Konstantin und dann zu Luisa. Ihr Vater hat den gleichen Blick, wenn ein Drogenabhängiger, den er nach vielen Monaten zermürbender Psycho-Arbeit von der Spritze wegbekommen hat, wieder anfängt zu fixen. Dann versteht er die Welt nicht mehr.
Aber Luisa versteht Tobias. Sie kniet sich wieder hin, lächelt ihn an. Er atmet erleichtert auf.
„Was ich sagen wollte, Luisa“, fährt Ursula, nun wieder mit ihrer warmen Stimme, fort, „alles wird hier nur angedeutet, sehr fein angedeutet. Keiner wird dich irgendwie komisch anfassen, verstehst du?“
„Bestimmt nicht“, pflichtet Konstantin bei und gähnt schon wieder. „ich denk‘ grad nur an Essen. Ich muss was essen vor der Vorstellung!“
Ursula seufzt. „Wir lassen was kommen für dich, aus den Drei Masken.“ Konstantin verzieht das Gesicht. Die hinter dem Tisch möchten plötzlich auch etwas zu essen. Tobias reibt sich fahrig die Nase.
Fast hätte Luisa den Kopf geschüttelt. Sind die kindisch, denkt sie und muss ein Lächeln unterdrücken. Gut, kuscheln … Sie wird es jetzt einfach versuchen.
„Also kuscheln“, sagt sie betont munter, obwohl ihr gleich wieder sehr flau im Magen wird, und legt sich neben den blonden Mann. Konstantin. Der schiebt sofort seinen Arm unter ihr durch. Es wirkt, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Na ja, 27mal, kichert Luisa innerlich. Nein, Moment, vor ihr ist doch Nummer 23 rausgekommen, warten 24, 25 und 26 womöglich die ganze Zeit? Aber warum haben die sie vorgezogen? Ist sie vielleicht doch der Typ, den sie suchen? 14 Jahre, poetisch, Jüdin, 1913, schwirrt es ihr durch den Kopf, die wollen gar keine, die älter aussieht und geschminkt ist und knappe Hüfthosen trägt. Sie holt tief Luft.
Ursula setzt sich wieder hinter ihren Tisch, und Luisa kuschelt sich an Konstantin. Fragend blickt sie Tobias an. Er sieht glücklich aus.
Konstantin spielt mit ihren Haaren. „Ich gehe nicht nach Amerika“, sagt er leise, und es klingt so echt, dass Luisa fragt: „Warum nicht?“ Tobias blickt sie gespannt an. „Wenn uns Meere trennen, kann ich nicht atmen“, erwidert Konstantin. Zum ersten Mal blickt er sie jetzt an. Luisa hält überrascht den Atem an, weil so viel Schmerz und – Liebe in Konstantins Blick liegt.
„Und ich will auch nicht atmen ohne dich“, fügt er hinzu, sehr, sehr leise. Luisa macht sich Sorgen um ihn. Sie dreht sich auf den Bauch und guckt Konstantin ernst an. „Das musst du aber“, sagt sie sehr überzeugt. „Sonst kleben wir ja die ganze Zeit zusammen.“
Tobias atmet hörbar aus, und seine Augen glänzen jetzt so warm wie Ursulas.
Luisa staunt: eine unsichtbare Seifenblase umhüllt sie alle drei wie eine riesige Wunderkugel. In diesem verzauberten Raum ist alles möglich, fallen ihr Worte ein, ist sie plötzlich nicht mehr Luisa, doch, schon, aber auch die Schwester von Konstantin oder dem Mann, den er spielt. Und der - hat Hunger. Sein Magen knurrt so laut, dass die Blase platzt. Der blonde Schauspieler richtet sich auf. „Das geht doch nicht. Das ist ja - wie mit einem Kind. So kann ich nicht spielen.“ Er ist aufgestanden und geht jetzt wie ein eingesperrtes Tier auf und ab, ballt seine Fäuste und spreizt dann die Finger. „Wieso muss ich als Erwachsener die Rückblende spielen, aber meine Schwester wird ersetzt? Durch ein Kind!“
Luisa schluckt. Das war ein harter Ball in ihren Magen, ein Sturz vom Kirchturm, der Rauswurf aus dem Zauberland. Sie stöhnt auf wie ein verwundetes Tier. Du bist ein freier Mensch, hört sie Verena sagen, du kannst jederzeit – Ja, sie geht. Das heißt, sie geht nicht, sie stürzt aus dem Raum, ohne jemanden dabei anzusehen, stemmt den Riegel an der eisernen Tür nach oben, rennt hinaus, über den Hof, wo die letzten Mädchen stehen, und den ganzen Weg bis nach Hause. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, und sie schluckt die ganze Zeit und ist beinahe am Ersticken, weil sie so schnell läuft und nicht daran denkt, dass sie ein Taschentuch einstecken hat. Das war alles so peinlich! Nie mehr im Leben will sie sich so blamieren. Das Theater hat sie sich anders vorgestellt. Ganz anders!
5
„Und, wie war’s?“, fragt Verena am nächsten Morgen, gespannt wie ein Bogen vor dem Schuss. „Erzähl‘, erzähl‘, er- zähl‘!“ Ihre Augen leuchten. Luisa schüttelt nur lahm den Kopf. „Ich bin gar nicht drangekommen“, schwindelt sie, „da waren so viele.“ Sie vermeidet es, Verena dabei anzusehen.
„Aus der Traum“, vertraut sie am Nachmittag Racker an, als sie mit ihm einen Feldweg entlang galoppiert. Er scheint sie zu verstehen, denn er lässt seine Beine fliegen, und Luisa muss sich sehr konzentrieren, um im Sattel zu bleiben. So bleiben auch ihre Tränen in ihr drin.
Es beginnt zu regnen. Aus der Traum! Was war denn das gestern? So viele seltsame Menschen auf einmal hat sie noch nie gesehen. Sie ist froh, dass sie Racker hat - und ihre Arbeit im Reitstall. Dann wird sie eben Reitlehrerin! Sie wird jetzt keine Rollen mehr lernen, die spinnen doch alle am Theater. Das ist schließlich nicht das richtige Leben. Sie watet neben Racker durch einen Bach. Die runden, glitschigen Steine rollen bei jedem Schritt unter den Füßen weg, da will sie nicht auf seinem Rücken sitzen – der Wallach muss sich schon genug konzentrieren, die Hufe sicher aufzusetzen. Es ist ihr egal, dass ihre Reitstiefel nass werden.
Beinahe genießt sie die kalte Feuchtigkeit, die in ihre Socken dringt. Das ist so – wirklich. Was hat sie da gestern eigentlich gemacht? Was für Worte gesagt in dieser großen Blase, in der eine – andere - Welt war? Eine Welt, in der sie sich voll- kommen zu Hause fühlte, das muss Luisa erstaunt zugeben, und ihr Herz beginnt zu pochen. Aber das hier, das ist die richtige Welt, beruhigt sie sich. Sie lehnt sich an Racker, der den Kopf wendet und in ihre Haare bläst. Auf seinen Geruch und Wasser und Moos und Bäume will sie nie verzichten. Gut, dass sie abgehauen ist. Sie hätte doch sowieso keine Chance gehabt neben all den schönen, schon fast erwachsenen Mädchen. Wer die Rolle wohl bekommen hat? Nein, das Stück wird sie sich nicht ansehen. Das ist blöd, entscheidet sie, ein Jude, der Hitler entflieht und sich dann umbringt, wer will denn etwas so Furchtbares sehen?
„Ach Racker“, seufzt sie, „ wir machen einen Reitstall auf. Und dann kaufe ich dich und wir reiten jeden Tag aus. Und du bekommst die schönste Box in meinem Stall. Ich gebe Reitstunden. Vielleicht zusammen mit Daniel ...
Racker beginnt, Gänseblümchen zu rupfen, die am Rand des Baches wachsen. Luisa lächelt. Es sieht lustig aus, wie die Blümchen zwischen den samtigen Pferdelippen verschwinden. Sie drückt ihre Nase ins feuchte Pferdefell. „Aber der ist viel zu alt für mich“, seufzt sie.
Dann richtet sie sich auf und blickt ins Wasser des Baches, auf dem Lichtreflexe tanzen. „Egal. Du und die Schule und Verena, das ist doch wirklich genug.“
Aber abends fühlt sich alles dunkel und pelzig an, als sie alle Rollenbücher entschlossen auf einen Stapel legt und einen Karton dafür sucht. Sie findet keinen. Aber sie will diesen Teil ihres Lebens so schnell wie möglich fortschaffen, und so läuft sie trotz Nieselregen zum Supermarkt, der zwei Straßen entfernt ist, und stöbert in den leeren Kartons, bis sie einen in der richtigen Größe gefunden hat. Sie legt die Bücher hinein, streicht noch einmal zärtlich über den Einband der Johanna und schiebt dann das Thema Theater entschlossen unter einen alten Schrank im Keller.
„Was machst du denn im Keller?“, fragt ihre Mutter.
„Och,