Heimatkinder Staffel 4 – Heimatroman. Kathrin Singer
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Der Kirchentraum war gut gefüllt, wie immer, wenn der Chor sang. Marie begrüßte ihre achtzehn Schützlinge. Anette war also wieder nicht dabei. Wie tröstlich, dass die Choräle auch ohne sie und die dritte Stimme gut klangen! Pfarrer Rieder blickte anerkennend zu ihr hinüber und wies seine Messjungen an, es ihm nachzutun. So recht konnte Marie sich nicht darüber freuen. Die Frage, was werden sollte, wenn Anette sich ganz vom Chor zurückzog, beschäftigte sie schon wieder.
Eine Stunde später, als die Gemeinde schon ins Schmuddelwetter hinausgetreten war, musste Marie noch mal erklären, warum die Noten für die dritte Stimme immer noch nicht fertig waren.
Als Pfarrer Rieder sie zu sich in die Sakristei winkte, nickte sie ihm nur kurz und knapp zu. Hoffentlich kam er nicht auch noch auf die dritte Stimme zu sprechen! Dann rastete sie aus vor Wut – sogar in der Sakristei.
»Baronin, bitte, kommen Sie doch noch mit in die Sakristei!«, erhob er doch tatsächlich seine Stimme.
Sie rief ihren Chorfreunden noch schnell ›einen schönen Sonntag‹ zu, hüllte sich in ihren Lodenmantel, drückte sich die Baskenmütze aufs Haar und trat ein. Pfarrer Rieder war ein freundlicher und rundlich gemütlicher Mensch, und sie ahnte schon, worum es ging. Bestimmt kam er wieder auf die verwaiste Praxis des verstorbenen Landarztes zu sprechen.
Er würde sie wieder fragen, ob es in der weitläufigen Verwandtschaft der Weißenbergs nicht einen Mediziner gebe, der sich hier in der herrlichen Landschaft als Arzt niederlassen wollte, damit seine Gemeindemitglieder nicht wegen jeden Hustens und Zipperleins die Fahrt nach Rosenheim oder Traunstein antreten mussten.
Aber Marie irrte sich gewaltig. Denn der Pfarrer überreichte ihr zwei Gläschen Honig. Sie sah ihn fragend an.
»Einmal Birkenhonig, einmal Waldhonig. Beides von der Witwe Matuschek, Baronin.«
»Für uns?«, freute sie sich. Die Witwe Matuschek wohnte in der Umgebung und galt für ihre weit über Sechzig als ungewöhnlich tatkräftig. Sie kleidete sich bunt und schrill wie eine Zirkusmitarbeiterin und verstand es immer noch, Männerherzen für sich einzunehmen.
»Frau Matuschek hat uns gestern zum Stammtisch im Seehof Kostproben ihres Honigs mitgebracht. Wirklich vorzüglich, was sie als Imkerin schafft, Baronin.« Seine Zunge fuhr sich über die weichen Lippen.
»Das ist sehr nett von ihr«, stellte Marie aufrichtig fest.
»Sie bat mich, Ihnen heute die Kostproben zu überreichen. Sie wissen ja, wenn etwas aus Ihrem Projekt Weißenberg-Hofladen wird, sollten Sie eine reichhaltige Auswahl unserer guten Produkte anbieten.«
»Ach so.« Marie verstand.
»Und zu unser aller Bedauern war der Baron ja gestern Abend nicht da.«
»Wie …? Er war nicht da?«
Pfarrer Rieder sah sie geduldig an. Und schon lächelte Marie wieder. Auch, wenn es ein etwas gekünsteltes Lächeln war, das so gar nicht zu ihr passte. »Meinem Mann ist Geschäftliches dazwischengekommen, ja. Danke für den Honig, Herr Pfarrer. Und liebe Grüße an Frau Matuschek.«
»Und Sie grüßen den Herrn Baron. Gott segnet die Tüchtigen, nicht wahr?«
»Ja, Herr Pfarrer.«
»Der Chor war heute wieder …, also ganz hervorragend, Baronin! Da geht meinen Schäfchen doch das Herz auf. Wie Sie das immer schaffen!«
»Wie?«, fuhr sie aus ihren Gedanken hoch. »Ach ja, es geht schon. Gott befohlen, Herr Pfarrer.«
Sie verließ die Sakristei langsam und durchschritt die Kirche wie im Traum. Was hatte Stefan vom Stammtisch abgehalten? Hatte er sich gestern Abend über ihre schlechte Laune geärgert und sich für eine angenehmere Ablenkung als den Stammtisch entschieden? War er deshalb so spät heimgekommen, sodass sie ihn nicht mal gehört hatte?
Sie holte die Kinder aus dem Gemeindesaal ab, und als die unbekümmert vor ihr her zum Auto hüpften, brach plötzlich die Sonne durch die Wolken. Marie hob den Kopf zu dem Stück blauen Himmel und atmete tief durch. Sie würde Stefan einfach fragen. Noch nie hatte ein Geheimnis zwischen ihnen gestanden.
»Mami …, was ist denn?«, rief Reserl ungeduldig.
Marie zuckte zusammen. Oder war es möglich, dass sich still und leise falsche Töne in ihre Ehe schlichen? »Nichts ist, meine Reserl.«
Auf der Fahrt zum Weißenberg-Hof erzählte Jossi auf ihre putzige Art die Legende vom Heiligen Sebastian.
»Pfeile, Mami! Sie haben ihn mit Pfeilen gepiekst.«
»Durchbohrt, Jossi, durchbohrt!«, verbesserte Reserl prompt.
»Also, davon will ich heute nichts hören!«, entschied Marie energisch. Nein, alles, was Schmerzen verursachte, ertrug sie heute nicht. Die Sonne schien doch endlich! Was Anette wohl dazu sagte, wenn sie sich über Schwester Isoldes Schauergeschichten beklagte. Aber Anette war nicht da! Maries Lippen wurden schmal.
Wie immer sonntags wurde im großen Essraum gegessen. Wilma hatte ein weißen Tischtuch aufgelegt und trug ihr Sonntagskleid. Es war dunkelblau und von weißen Sternchen übersät. Die Sternchen waren so weiß wie ihr Haar, und ihr großmütterliches Gesicht strahlte wie die Frühlingssonne, als sie den Gemüseauflauf und knusprige Hammelkoteletts dazu servierte.
Bevor Stefan kam, stellte Marie die Honiggläser gut sichtbar neben sein Gedeck. Das würde ihn zu einer Frage veranlassen, und dann klärte sich bestimmt sein Fehlen beim Stammtisch als Missverständnis auf.
»Baronin Marie!«, sagte Wilma streng und nahm die Gläschen wieder vom Tisch. »Das ist nicht gut für die Kinder. Honigschlecken beim Gemüseauflauf! Wir wollen doch unsere kleinen Schätzchen nicht unnötig verwöhnen.«
Marie wagte der Siebzigjährigen nie zu widersprechen. Dazu hatte sie sie viel zu gern. Also presste sie die Lippen wieder aufeinander.
»Mahlzeit!«
Das war Stefan, der mit den Kindern eintrat. Alle drei zeigten ihre frisch gewaschenen Hände und sahen Marie dabei recht verschmitzt an.
»Was ist denn?«, fragte sie beiläufig und setzte sich an den Tisch. Und da kam wie von Zauberhand von hinten etwas Wunderschönes zum Vorschein.
In einem winzigen Körbchen wuchs ein Bündel Märzenbecher auf grünem Moos. Und um das Körbchen war ein rosarotes Schleifchen gebunden. Behutsam stellte Stefan es vor ihr Gedeck.
»Ist das nicht süß, Mami?«, fragte Reserl. »Hat Papi gefunden und extra nach Moos gesucht und für dich gemacht. Hat er doch super hingekriegt, wie?«
Marie sah sich um und direkt in Stefans stolzes Gesicht. Und dabei verschwanden seine Umrisse hinter einem Tränenschleier. Wie hatten sich nur so dumme Ahnungen über seinen gestrigen Abend in ihr Herz bohren können? Sie schluckte. »Für mich?«
Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Für die liebste Mami und die schönste Ehefrau auf der Welt – meine Marie.«
Noch als er neben ihr saß und sich alle bei den Händen fassten, um sich guten Appetit zu wünschen, würgte Marie gegen ihre Tränen. Wie war sie nur darauf gekommen, ihm Heimlichkeiten