Das große Jagen. Ludwig Ganghofer
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Читать онлайн книгу Das große Jagen - Ludwig Ganghofer страница 20
»Nichts, gute Sus! Wo ist das Luisichen?«
»Die Haustochter hab ich nimmer gesehen, seit sie heimgekommen ist von der Frühmeß. Der Meister ist ganz von Sinnen gewesen. Und da bin ich allweil beim Zaun gestanden, hab gewartet und bin nur ein paarmal hineingesprungen zum Herd, daß mir das Fleisch nit aus dem Sieden kommt.«
»Recht so, liebe Sus! Dein Herr und dein Herd!« Der Pfarrer sagte scherzend: »Gelt, Mädel? Dich plagen keine Seelenzweifel und Glaubenskämpf?«
»Mich nit!« antwortete sie ehrlich. »Ob des lieben Herrgotts Kittel grün oder rot ist, das ist mir eins. Kittel her oder hin, der Herrgott ist drin. Mir ist das Leben recht, so lang der Meister seine Ruh hat und schaffen kann. Und weil man schon nimmer weiß, wie man beten muß, drum bet ich am Morgen katholisch, am Abend evangelisch. Eins muß dem Meister allweil nutzen.«
»Betest du nit auch für dich?«
Sus schüttelte den Kopf und trat in den Flur. »Ich zähl doch nit.« Als sie dem Pfarrer den Mantel abnahm, sagte sie: »Eh der Meister fort hat müssen, ist die Haustochter bei ihm gewesen.« Sie öffnete die Tür der Werkstatt. »Kindl? Bist du noch da?« Auch der Pfarrer war über die Schwelle getreten. Nun sahen die beiden im gleichen Augenblick die Holzplatte mit dem formlos auseinandergequetschten Wachs. Die Sus bekam ein Gesicht, so weiß wie Kalk. Und der Pfarrer stammelte: »Gotts Not! Das hat doch der Meister nit selber getan! Mädel? Ist ein Chorkaplan im Haus gewesen?« Sus hörte nicht. Immer sah sie die Reste des vernichteten Werkes an, als wäre das der Untergang einer kostbaren Welt. Den Mund von Tränen überkollert, lispelte sie: »Wie heilig und schön ist das gewesen!« Unbeweglich blieb sie vor dem Gewirr des roten Wachses stehen, als Pfarrer Ludwig hinaussprang in den Flur.
»Luisichen!« rief er, während er hinaufhastete über die Treppe. »Luisichen!« Er stieß die Wohnstube vor sich auf. »Luisichen! Luisichen!« Er rüttelte an des Mädels verschlossener Kammertür. »Aber Kind! So tu doch reden! Bist du da drin?« Er vernahm einen Laut. War's ein lallendes Beten? Ein Stöhnen in Schmerz? Mit aller Kraft seiner Sorge warf sich der Greis gegen die Tür. Der Riegel klirrte in die Stube hinein, Pfarrer Ludwig taumelte über die Schwelle und tat im ersten Schreck einen heiseren Schrei. Erstarrt hing Luisa vor ihm an der weißen Mauer, wie eine Gekreuzigte, umwoben von der Sonne. Ihre Arme, von denen die leinenen Ärmel zurückgefallen waren, hatten eine gedunsene Form und waren so rot wie das Mieder, unter dem die junge Mädchenbrust in heftigen Stößen atmete. Oberhalb der schnürenden Tuchschlingen waren die Hände dunkelblau, mit gespreizten, leblosen Fingern. Und der Kopf mit den schweren Haarflechten hing entkräftet vornüber. Ein paar lallende Laute noch. Dann schien eine Ohnmacht die Sinne der Büßerin zu umschatten.
Pfarrer Ludwig schrie den Namen der Sus, sprang auf Luisa zu, riß das Messer heraus, das er wie ein Bauer an der Hüfte trug, umklammerte die Bewußtlose mit dem linken Arm und schnitt die gestrafften Tuchschlingen von den Holzzapfen. »Da möcht man doch verzweifeln an der Menschheit!« keuchte er und trug die Ohnmächtige hinüber zum Bett. Als er die Sus kommen hörte, befahl er: »Lauf, was du laufen kannst, und bring einen Becher Kirschwasser!« Er zerrte die Tuchschlingen von Luisas Handgelenken, begann ihre starren Arme zu kneten und rieb ihre Hände, bis die blaue Färbung verschwand und der Blutlauf wieder in Gang geriet. Nun brachte die Sus den Becher und stammelte: »Was ist denn geschehen?«
»Nit viel!« Er konnte lachen. »Ein bißl Dummheit geht um in den Menschenköpfen. Wer weiß, wozu es gut ist! Ein Holländer hat mir neulich gesagt: ‚Kein Ding, das dem Leben nit dienen könnt, auf daß die Menschenkinder teilhaftig werden des Glückes!‘« Mit dem Becher beugte der Pfarrer sich über das Bett und flößte einen festen Guß des Kirschwassers in Luisas Mund. Sie schluckte. »Soooo, Kindl! Gelt, das ist gut!« Er stellte den Becher fort und rückte den Fußteil des Bettes von der Mauer weg. »Flink, Sus! Auf die ander Seit hinüber! Mach dem Mädel das Mieder und den Rockbund auf. Wir müssen schauen, daß wir sie unter die Deck bringen.« Hurtig rieb er die Hand der Ohnmächtigen. »Dann nimm ihren anderen Arm und tu mir alles nachmachen, fest und flink!«
»Was ist denn, Hochwürden?«
»Ach, so dumme Mädelgeschichten! Da ist sie ein bißl krämpfig worden.«
Während Sus das rote Miederchen der Haustochter aufnestelte, klagte sie vor sich hin: »Um Gottes willen!«
»Nein, gute Sus! Gott ist da nit dabei. Nur Überfluß an jungem Blut und ein bißl Mangel an gesundem Verstand.«
Unter den vier kräftigen Fäusten wurden die zwei starren Mädchenarme heiß und beweglich. Auch das verschluckte Kirschwasser wirkte mit, um das junge Blut seinen vernünftigen Weg wieder finden zu lassen. Luisa öffnete die Lider wie eine Schlaftrunkene. In schwimmendem Glanze glitten unter den langen Wimpern die langsamen Augen. »Guck!« Der Pfarrer ließ auf seiner Wange die große Warze tanzen. »Wie munter das liebe Kindl schon wieder ins Leben blinzelt! Lauf, gute Sus! Und spring hinüber zu mir! Da wartest du auf den Meister. Kommt er, so bring ihn heim und sag ihm: das Kindl hätt einen Purzelbaum gemacht. Aber sag's nit so, daß der Meister erschrecken muß. Sag's lieber so, daß er lachen kann.« Die Sus, aufatmend, surrte in den Flur hinaus. Aller Schreck der verwichenen Minuten erlosch ihr in dem Gedanken, daß sie hinlaufen durfte, wo der Meister war. »So, Luisichen, komm, jetzt nimm zur Aufmunterung noch ein kleines Schlückl!« Pfarrer Ludwig schob den Arm unter Luisas Nacken und führte den Becher an ihren Mund.
Gehorsam, wenn auch noch immer ein bißchen duselig, öffnete sie die Lippen und trank. Nach dem ersten Schluck erweiterten sich ihre Augen wie in Entsetzen. Mit beiden Händen versuchte sie sich zu wehren und lallte: »Jesu mein, Ihr gießet mir ja die Höll ins Leben!«
»Umgekehrt! Ich lösch in dir die unsinnige Höll mit einem nötigen Lebenstrunk! Tu schlucken! Fest!« Er hob und goß, bis der Becher leer war. Weil sie nicht schlucken wollte, preßte er die linke Hand auf ihren Mund, faßte mit der rechten den feinen Mädchenhals und rüttelte die widerspenstige Kehle. »Schluck, mein Luisichen! Schluck!« Ob Luisa wollte oder nicht, sie mußte schlucken. Die brennende Kirschwasserhölle war drunten. Daraus ergab sich eine sehr sonderbare Wirkung. Obwohl von Zorn und Ekel die Tränen in Luisas Augen traten, konnte sie die kühlen Greisenfinger an ihrem Halse nicht ertragen, mußte aufkreischen, mußte lachen wider Willen. »Ooooh, Luisichen?« Der Pfarrer wurde lustig. »Muß man dich kitzeln, damit du das menschliche Lachen lernst? Das kann ich besorgen. Lach, mein Luisichen, lach! Wie mehr, so gesünder ist es!« In der Art, in der man schäkert mit einem zappelnden Buben, begann er sie am Hals zu kitzeln, am Kinn, an den Ohren, an den Ellbogen und unter den Armen.
Sie wollte sich wehren und wurde hilflos, wand sich und kreischte, schüttelte die sich lösenden Zöpfe von ihrer Stirn herunter und schrie und lachte. Immer wollte sie betteln: »Hör auf, hör auf!« Und konnte nicht reden, weil sie lachen mußte, immer lachen und lachen.
»Brav, mein Kindl! Netter bist du noch nie gewesen, als jetzt in deinem zappligen Übermut! Gelt, ich hab recht? Bloß ein Lachender merkt, wie munter und kostbar das irdische Leben ist!«
Es gelang ihr, sich seinen Händen zu entwinden. Halb noch lachend, halb von Jähzorn befallen, faßte sie eines von den zwei weißen Kissen ihres Bettes und warf es dem Pfarrer Ludwig an den Kopf.
Er haschte das linde Geschoß, umschlang es an seiner Brust und sagte fröhlich: »Gott sei Dank! Eine menschliche Regung! Kindl, jetzt kann man bei dir auf Genesung hoffen!«
Zitternd fiel sie zurück und preßte den Arm über die Augen. Der Pfarrer setzte sich auf den Bettrand hin, behielt das weiße Kissen auf seinem schwarzen Schoß und betrachtete unter freundlichem Lächeln das stumme, glühende, um Atem ringende Menschenkind,