Beschreibung der Welt. Marco Polo
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Von da an war Venedig eigenständig. Der Doge firmierte in krämerseliger Pi-mal-Daumen-Berechnung als »Herr über ein Viertel und die Hälfte eines Viertels des (Oströmischen) Reiches«, er hatte auf Kreta das Sagen, ließ Koron und Modon auf der Peloponnes okkupieren – und binnen Kurzem gab es kaum eine Siedlung in jener Region, in der den Venezianern nicht eine Niederlassung gehörte. Venedig war vermögend. »Eine Stadt reich an Gold«, nannte sie Francesco Petrarca in einem seiner Rerum senilium libri, seiner »Bücher über Altersangelegenheiten« (1501), »doch reicher an Ruhm; mächtig durch Wohlstand, doch mächtiger durch Gesittung; auf marmornen Fundamenten gegründet, doch auf dem solideren Sockel der Einheit der Bürger verankert; von Salzfluten umgeben, doch von weisen Ratschlüssen beschützt.«
Ungeachtet der Rivalität mit dem aufstrebenden Genua setzte Venedig die Ausdehnung seines Einflusses fort: Es unterwarf 1269 Umago in Istrien, 1270 Cittanova in Slowenien und 1271 San Lorenzo, wiederum in Istrien.
Es war eine glorreiche Epoche, in welche die Brüder Polo heimgekehrt waren. Und vermutlich war es auch der Schwung jener Jahre, das Was-kostet-die-Welt!, von dem sie um Ostern 1271 angetrieben wurden, ihr Wort beim Großkhan einzulösen. Ein Nachfolger für Klemens IV. war noch nicht gefunden und die Sache mit den hundert Gelehrten demnach nicht zu regeln; aber wenigstens das Oleum Sanctum ließ sich aus Jerusalem beschaffen. Daher schien es ihnen ratsam, in Bälde erneut nach Akko aufzubrechen. Wobei sie diesmal den jungen Marco Polo mitnehmen wollten. Der war jetzt siebzehn Jahre alt.
Niccolò hatte nach dem Tod seiner Frau die Jahre von 1269 bis 1271 genutzt und war noch einmal auf Brautschau gegangen. Seine zweite Auserkorene hieß Fiordelise Trevisan und sollte dem jungen Marco Polo während dessen Reise mit Vater und Onkel einen Stiefbruder bescheren, Maffeo (den Jüngeren).
Niccolò hatte sein Haus gut bestellt. Und so machten sie sich zu dritt, Niccolò Polo, sein Sohn Marco und dessen Oheim Maffeo (der Ältere), um Ostern 1271 nach Akko auf den Weg. Sie besorgten das Öl, um das der Großkhan sie gebeten hatte, erhielten – da ein neuer Pontifex maximus noch immer nicht bestimmt war – ersatzweise vom päpstlichen Legaten in Akko, Tedaldo Visconti da Piacenza, ein Beglaubigungsschreiben und segelten gen Nordosten nach Iskenderun. Dort erfuhren sie zu ihrer Verblüffung, dass jener Würdenträger, den sie jüngst verlassen hatten, am 9. September 1271 als Gregor X. zum Stellvertreter Jesu Christi gewählt worden war. Also machten sie kehrt. Sie empfingen den apostolischen Segen, überdies ein paar Botschaften an den Großkhan, ferner Geschenke. Dann wurden sie entlassen – wenn auch nicht mit einem Geleit von hundert Kirchenmännern, so doch mit einem Gefolge von zweien: den Dominikanern Niccolò da Vicenza und Guglielmo da Tripoli. Nun konnte der Gran Viaggio beginnen …
Es liest sich wie eine Burleske aus der Feder Boccaccios, dass die beiden Fratres, als das Fähnlein der fünf Aufrechten hinter Iskenderun zwischen die Fronten eines Krieges geriet, all ihr Gottvertrauen verloren. Zitternd und zagend drückten sie den Polos die Legitimationen des Heiligen Vaters in die Hände und machten sich unter »Addio!« und »Valete!« mit wehenden Kutten aus dem Staub. Der Mission kam es zugute.
Im Familientross, unbelastet von den Dreinreden Fremder, zogen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gen Südosten in Richtung Hormus (= Ormus) weiter. Von Westen her drang mancherorts – und dergleichen sollte sich auf der ganzen Reise wiederholen – die Kunde von entlegenen Städten und Stätten: vom Ararat, auf dem die Arche Noah gelandet sein sollte, von Mossul (= Mosul) und Shiraz (= Siras), von Isfahan (= Spaan) und Bagdad (= Baidach), wo ein frommer Schuhmacher vordem zum Nachweis der Stärke des christlichen Glaubens einen Berg versetzt hatte: Und die Erde bebte zur gleichen Zeit »in einer wunderbaren und erschrecklichen Weise«. Das gab der Chronik Würze.
Auch wenn es nicht ausdrücklich angekündigt wurde, hatten die drei offenbar die Absicht, ab Hormus mit Schiffen um Indien herumzufahren – vielleicht bis Quanzhou (= Zaitum), zum bedeutendsten Hafen im Reich Kublais, um dann von dort aus die vergleichsweise kurze Strecke zum Sommer-Hoflager des Großkhans in Shangdu (= Cle-men-fu) in der Nähe des heutigen Zhenglan Qi in der Inneren Mongolei mit Pferden zurückzulegen.
Indes hatten die Signori Polo aus der maritimen Metropole Venedig die Rechnung ohne die Schiffbaukunst in den Werften von Hormus gemacht, in denen weder eiserne Nägel verwendet noch Pech gebraucht wurden, wo man die Boote lediglich mit Einzelmast und -segel versah und als Anker – »Inschallah!« – zwei, drei Steinbrocken mitgab. Die mehr zusammengezurrten denn gezimmerten Fahrzeuge erschienen den kundigen Blicken der Vielgewandten »von der schlechtesten Art und sehr gefährlich«, sodass sie es vorzogen, ihr Unternehmen statt auf dem See-, auf dem Landweg fortzusetzen.
Sie ritten in nordöstlicher Richtung, erfreuten sich an der Lieblichkeit mancher Gegend in Persien, durchquerten erst eine, dann noch eine Wüste, bewunderten die Weiber, »die meiner Meinung nach die schönsten auf der Welt sind«, und sahen linker Hand in der Ferne die Wipfel des Elburs – Zeit, die Geschichte des Alten vom Berge einzuflechten, des Scheichs al-Dschebel oder »Gebieters des Gebirges«, des Anführers der Assassinen und Schreckens aller Kreuzfahrer.
Sie erzählt von einem Fürsten, der seinen Kämpfern für den Fall, dass sie ihm bedingungslos gehorchen würden, den Einzug in das Paradies versprach. Um zu zeigen, dass er seine Zusage zu halten vermag, ließ er den Recken, ohne dass sie es merkten, ein Rauschmittel in den Wein mischen, worauf sie in tiefen Schlummer versanken. Eiligst wurden sie daraufhin in einen Schlossgarten geschafft, in dem sie nach ihrem Erwachen von frivolen Nymphen durch allerlei »Freude und Kurzweil« umturtelt und verwöhnt wurden. Nach einiger Zeit bekamen die Krieger aufs Neue die Droge verabreicht und fielen abermals in einen Schlaf. Und als sie daraus erwachten, fanden sie sich an ihrem Ursprungsort wieder. In Erinnerung aber an den vermeintlichen Schnupperkurs im Paradies schworen sie ihrem Herrscher, »in seinem Dienst zu sterben«.
Das Märchen schwirrte schon seit einem Jahrhundert durch die Literaturen des Orients und Okzidents und schlug nun bei seiner Aufnahme in die Beschreibung der Welt feste Wurzeln – Wurzeln, aus denen Ableger wuchsen. Philologen wundern sich sporadisch darüber, dass Landsleute Marco Polos wie Giovanni Boccaccio nichts von dem Mann zu wissen scheinen. Aber ist die Tatsache, dass in der achten Geschichte des dritten Tages im Dekameron (um 1350) von einem Pulver gemunkelt wird, wie »es der Alte vom Berge zu gebrauchen pflege«, nicht doch ein Anzeichen dafür, dass der Florentiner den Reisebericht des Venezianers gekannt hat?
Jedenfalls wurde die Novelle ein produktives Souvenir. Das ging so weit, dass sich Hermann Löns dazu verstieg, für seine Sammlung Mümmelmann und andere Tiergeschichten (1909) eine tränentreibende Fuchs-du-hast-das-Kitz-gerissen-Saga mit dem Titel zu verfassen: »Der Alte vom Berge«. Dass der Fund aus Persien realiter eine Fama war, ein mit Vorsicht zu genießendes Gerücht, räumte Marco Polo selbst ein. Er griff ihn aber auf und verstaute ihn, weil ihm Intermezzi dieser Art Gelegenheit zum Innehalten boten, zum Rasten, wobei sich die Menge der geschilderten Eindrücke geruhsam verarbeiten ließ. Dann konnte es mit frischen Kräften weitergehen.
Das Trio hatte die unwegsamen Felslabyrinthe Afghanistans rechts liegen gelassen und ritt nun auf Kaschmir (= Kesmur) zu und auf das Hochland des Pamir (= Pamer). »So groß ist die Höhe der Berge, dass keine Vögel in der Nähe ihrer Gipfel zu sehen sind, und wie außerordentlich es auch scheinen mag, es wurde versichert, dass wegen der Schärfe der Luft Feuer, die angezündet werden, nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigeren Gegenden [und] auch nicht so kräftig wirken bei der Zubereitung von Speisen«. Alles dies speichernd, das Gesehene und Gesagte, erreichten sie Kashgar (= Kashcar) im Westen der Wüste Takla Makan. Von hier aus wanderten sie auf der südlichen jener großen Karawanenrouten, die sechs Jahrhunderte später von dem deutschen Geographen Ferdinand von Richthofen den Namen »Seidenstraße« bekommen sollte. Yarkant