Beschreibung der Welt. Marco Polo
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Rustichello da Pisa war 1284 in der Schlacht von Meloria vor der Küste der Toskana in die Hände der Genueser gefallen und nach mehr als zehnjähriger Haft ohne Zweifel froh, auf einen den Geist beflügelnden Leidensgenossen zu treffen. Dies umso mehr, als Rustichello Schriftsteller war und sich unter anderem 1271 durch einen Verschnitt der heroisch-pittoresken Epik rund um den Artusstoff hervorgetan hatte, den Livre du roy Meliadus (»Band über König Meliadus«).
Die Kompilation hatte mit dem Satz begonnen: »Ihr Kaiser, Könige, Prinzen, Herzöge, Grafen und Barone, Ritter und Vasallen und alle ihr Edelmänner dieser Welt, die ihr die Fähigkeit habt, euch an Romanen zu ergötzen – nehmt dieses Buch und lasst es euch Zeile für Zeile vorlesen […].«
Das ist in seiner Diktion, seiner Syntax und seinem Appell-Charakter nahezu identisch mit dem Auftakt der Beschreibung: »Ihr Kaiser, Könige, Herzöge, Fürsten, Grafen und Ritter und alle anderen, die ihr den Wunsch habt, Kunde zu erlangen von den mannigfachen Rassen des Menschengeschlechts und den verschiedenen Königreichen, Provinzen und Ländern in den östlichen Teilen der Welt – lest dieses Buch […].«
Schon angesichts der Nähe der ersten Wörter des Berichts zu Rustichellos Melange erheben sich zahlreiche Fragen: Ist die Beschreibung der Welt tatsächlich in einem Kerker entstanden? Und wo ist ihr Urtext? In welcher Sprache war er verfasst? Welchen Anteil hatten jeweils Marco Polo und Rustichello daran? Hat Marco Polo diktiert oder Rustichello lose Aufzeichnungen beziehungsweise einen Entwurf zur Verfügung gestellt? Besaß der Venezianer überhaupt so etwas wie eine Urheberschaft an dem Manuskript? Oder handelt es sich bei dem Text gar um eine Mystifikation der Art, die wir zum Beispiel aus Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) kennen, in dessen Vorrede genau wie im »Prolog« versichert wird: »Der Herausgeber hält das Ganze für den getreuen Bericht wirklicher Begebenheiten und kann keine Anzeichen einer freien Erfindung darin entdecken« – um dann eine von vorne bis hinten fiktive Story zu erzählen.
Bilder, die zeigen, dass niemand weiß, wie er aussah: Marco Polo, Kupferstich von 1857 …
Auch wenn die Literatur über Marco Polo inzwischen hohe Regalwände in den Bibliotheken füllt, gibt es nicht eine Antwort auf alle diese Fragen, die ohne »möchte«, »könnte«, »dürfte wohl« auskommt – ohne Optative, die um Aufklärung buhlen. Aber die ist im Fall der Beschreibung der Welt nicht zu erreichen. Stattdessen nimmt die Ungewissheit zu, wenn wir bedenken, dass bis dato rund hundertfünfzig mittelalterliche »Marco Polo«-Handschriften aufgetaucht sind (was sich jedoch neben den sechshundert Manuskripten zu Dantes fast gleichzeitig entstandener Commedia [um 1307 bis 1321] geradezu bescheiden ausnimmt): Mal tragen sie den Titel Devisement du monde (»Aufteilung der Welt«), mal Livre des Merveilles (»Buch der Wunder«), mal Il Milione (so viel wie: »Das Buch, worin es um Millionen geht«); mal kommen sie in einem franko-italienischen Idiom daher, mal in lateinischer und altfranzösischer Sprache, mal in venezianischem und toskanischem Dialekt; mal auf Kastilisch und Katalanisch, mal portugiesisch und tschechisch, mal irisch und deutsch; mal sind sie gegeneinander gekürzt und erweitert … mal offensichtlich fehlerhaft.
… und in einer weiteren Darstellung aus dem 19. Jahrhundert (entstanden nach einem Gemälde des 16. Jahrhunderts)
So erwies sich die Behauptung, Marco Polo habe in Yangzhou (= Jan-gui) »im besonderen Auftrag Sr. Majestät« während dreier Jahre den Posten des Statthalters bekleidet, als Flüchtigkeit eines Kopisten, der aus einem »sejourna«, ›sich aufhalten‹, ein »seigneura«, ›herrschen‹, gemacht hatte. Und schon beförderte Alvise Zorzi mit beherztem »Es hat den Anschein« und »gewinnt man den Eindruck« Marco Polo zum »Aufseher oder Leiter der Salzadministration«.
Was prima vista wie das unzulässige Weiterspinnen eines dünnen Erzählfadens wirkt, lässt sich auf den zweiten Blick als Angesteckt-Sein von der Spontaneität der Beschreibung der Welt interpretieren – als ›Mitgehen‹ im wahren Sinn des Wortes. Erzeugt wird diese Unmittelbarkeit unter anderem dadurch, dass der Herstellungsvorgang des Textes immer wieder offengelegt wird: »Da nun hiervon genug gesagt worden ist, wollen wir zu der Landschaft Karkan übergehen«, oder: »In diesem Buche haben wir uns vorgenommen, zu schreiben über alle die großen und bewunderungswürdigen Taten des jetzt regierenden Großkhans, der Kublai Khan heißt«, oder: »Nun erfordert auch die Ordnung, dass wir ebenfalls die anstoßenden Landschaften besichtigen und kürzlich anzeigen, was darin zu finden ist.«
Es ist dieses den Hörer (oder Leser) unablässig mit einbeziehende »Wir«, das diesen bald zu einem Teilnehmer an der Reise macht. Freilich taucht ab und zu auch ein »Ich« auf: »Da ich nun von dieser Stadt gesprochen habe, sollen andere […] demnächst besprochen werden«, oder: »Als ich zehn Meilen von der Hauptstadt hinwegkam, fand ich ein großes fließendes Wasser«, oder: »Nicht den zwanzigsten Teil habe ich beschrieben.« Desgleichen wird die Hauptperson des Berichts durchaus in der dritten Person beim Namen genannt: »Marco Polo wurde selbst in eine solche zauberkünstliche Finsternis gehüllt«, oder: »Marco Polo war zu der Zeit, als sich dieses zutrug, am Orte der Begebenheiten«, oder: »Als Marco Polo sich in der Stadt Singui befand, sah er bei einer Gelegenheit nicht weniger als fünftausend Fahrzeuge.« Ansonsten aber überwiegt – und zwar bei Weitem – das »Wir«: »Wir verlassen diesen Platz und wollen nun von einem anderen reden«, oder: »[Nun wollen wir] zu dem früheren Gegenstand zurückkehren, das heißt zu der großen Ebene, die wir durchschritten, als wir innehielten, um die Geschichte dieses Volkes zu erzählen«, oder: »Wir wollen diese Provinz nun verlassen und von einem anderen Lande reden, das nach (Nord-)Ost liegt und Tenduk heißt.«
Ohne es zu merken, haben »wir« uns längst der Gruppe um Marco Polo und seinen Sprecher Rustichello angeschlossen – nicht anders als wir es heute im Schlepptau jener Cicerones (oder Guides) tun, die uns mit den hochgestreckten Logos ihrer Reiseunternehmen durch Venedig lotsen. »Wenn wir jetzt in den Kanal da vorne einbiegen, sehen wir rechts das Teatro Malibran, das sich an derselben Stelle befindet, an der vor vielen Jahren das Haus von Marco Polo stand!«
Und weil uns in der Suggestivität dieses Stils bis auf wenige Ausnahmen keine Erlebnisse, sondern ausnahmslos Erkenntnisse mitgeteilt werden – wie eine Örtlichkeit heißt, welche Menschen dort wohnen, was für Sitten sie haben und welche Denkwürdigkeiten sich mit dem Platz verbinden –, ist unsere Phantasie ständig in Bewegung: Was muss das rings um Japan für ein eindrucksvolles Meer sein, in dem »siebentausendvierhundertundvierzig Inseln« liegen! Und welch ein Reichtum muss daselbst herrschen, wo es unmöglich ist, »den Wert des Goldes und anderer Dinge, die auf den Inseln gefunden werden, zu schätzen«!
Kolumbus – oder Cristoforo Colombo aus Genua – sollte der Magie der Beschreibung der Welt eines Tages erliegen. »Aurum in copia maxima« hat er in sein 1485 gedrucktes lateinisches Exemplar neben die Zeile geschrieben, in der es heißt: »Ibi est aurum in copia maxima« … »Dort ist Gold im größten Überfluss.«5 Auf diese Randbemerkung muss man sein Augenmerk richten, um im Spektrum der Spekulationen über Kolumbus’ Beweggrund zu seiner Reise nach »Indien« den wahren Antrieb erkennen zu können. Es war nicht bloß so dahergesagt, was er seinen Leuten in Aussicht gestellt und am 10. September 1492 in das Bordbuch eingetragen hatte: »Heute ließ ich die Mannschaft zusammenrufen und sprach von den Ländern, die auf uns warten. Ich schilderte sie, wie ich sie aus dem Bericht Marco Polos kenne. Als ich die Reichtümer erwähnte, das Gold und die Edelsteine, mit welchen sich ein jeder die Taschen würde vollstopfen können, hellten sich die Mienen doch ein wenig auf.« … »Aurum in copia maxima.« Die sich nicht erfüllende Verheißung war Marco Polos Rache für die Haft in Genua.
I viaggi