Beschreibung der Welt. Marco Polo
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Beschreibung der Welt - Marco Polo страница 5
Ein weiteres »Porträt« Marco Polos, von dem es keine authentische Darstellung gibt. Holzschnitt von Sebastian Münster, 1544
Ist es nicht packend und bewegend zu gewahren, dass sich der schwedische Asienabenteurer Sven Hedin bei seinem Treck durch die Takla Makan am 27. April 1895 genau an diese Sätze aus der Beschreibung der Welt erinnert hat? »Es galt, dicht beisammenzubleiben. Verlor man die anderen außer Sicht, so konnte man den Sturm weder durch Rufe noch Flintenschüsse übertönen; man verirrte sich und wäre rettungslos verloren gewesen. Man sah nur das nächste Kamel; die Übrigen verschwanden in einem undurchdringlichen Schleier. Nur ein eigentümlich pfeifender, sausender Ton ließ sich hören, wenn die Milliarden von Sandkörnern vorbeieilten. – Vielleicht waren es diese eigentümlichen Laute, die auf Marco Polos Phantasie einwirkten, da er in seiner Schilderung von den Schrecken der ›großen Wüste‹ schreibt.«3
Irgendwo in dieser Gegend konnten die drei Sendboten die Spur aufnehmen, die Niccolò und Maffeo Polo vor ungefähr acht Jahren auf ihrem Weg zum Großkhan gezogen hatten. Jetzt war es nicht mehr weit bis Shangdu. Im Norden, so wurde ihnen gemeldet, befand sich zwischen der Takla Makan und der Gobi das Reich der Tangut (= Tanguth). Die Polos beließen es beim Hörensagen und gelangten auf das Gebiet der Uiguren und dort nach Zhangye (= Kampion). »In dieser Stadt blieb Marco Polo mit seinem Vater und seinem Oheim ungefähr ein Jahr, wie es da die Verhältnisse nötig machten.«
Eine Sprache wie aus einem politischen Bulletin: voller Wörter, aber nichtssagend. Was war geschehen? Hatte Marco, der vor rund einem Jahr, 1272, in Badakhshan (= Balaschan) schon einmal das Bett hüten musste, einen Rückfall erlitten? Oder war die Abordnung aus dem unbekannten Westen, wie Alvise Zorzi in seiner Biographie Marco Polo (1982) vermutet, in die Mühlen der Bürokratie geraten – zumal Kublai gerade einen Krieg an der Südflanke seines Reiches führte und allen Grund hatte, Fremdlingen gegenüber misstrauisch zu sein? Oder hatten sie einen Handel eingefädelt, eine Liebschaft angeknüpft? Wir wissen es nicht.
Umso genauer sind wir durch das erste Kapitel4 der Beschreibung der Welt über das Eintreffen der drei Wallfahrer aus dem Abendland beim Herrscher der Mongolen informiert: »Als sie sich seiner Person näherten, bezeugten sie ihre Ehrerbietung, indem sie sich an der Türe mit dem Angesichte niederwarfen. Er befahl ihnen sogleich, sich zu erheben und ihm die Umstände ihrer Reise zu erzählen, mit allem, was bei ihrer Unterhaltung mit Sr. Heiligkeit dem Papste stattgefunden. Sie erzählten nun die Ereignisse in guter Ordnung und der Kaiser hörte ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit zu. Die Briefe und die Geschenke vom Papst Gregorius wurden dann vor ihm hingelegt, und nachdem er die Ersteren gelesen, lobte er die Treue, den Eifer und den Fleiß seiner Gesandten, und indem er mit gebührender Ehrfurcht das Öl vom Heiligen Grabe in Empfang nahm, gab er Befehl, dass es mit religiöser Sorgfalt aufbewahrt werden solle. Er bemerkte Marco Polo und frug, wer er wäre. Niccolò Polo antwortete, es sei sein Sohn und der Diener Sr. Majestät. Da geruhte der Großkhan, ihn unter seinen besonderen Schutz zu nehmen, und ernannte ihn zu einem seiner Ehrenbegleiter.«
Man schrieb den Juni 1275. Mehr als vier Jahre waren die Männer seit ihrem Aufbruch von Venedig unterwegs gewesen.
Die Länge ihrer Herreise war dem Zeitraum angemessen, in dem sich Niccolò, Maffeo und Marco Polo in der Umgebung des Großkhans nunmehr aufhalten sollten.
Kublai, dessen Großvater Cinghis Khan durch sein Vorpreschen bis zum Dnjepr die Voraussetzung dafür geschaffen hatte, dass die Horden Ögödais, seines Sohnes und damit eines Onkels von Kublai, im Jahr 1241 bis ins schlesische Liegnitz vorstoßen konnten, wo sie nach ihrem Sieg über Herzog Heinrich II. von Schlesien seltsamerweise den Rückzug aus Europa antraten – dieser Spross aus einem wilden Reitervolk, gebot, wenn auch als Großkhan, nur noch über einen Bruchteil des einstigen Mongolenreichs. In Familien- und Stammesfehden hatten die Nachfahren Cinghis Khans dessen Herrschaftsgebiet vom Gelben bis zum Kaspischen Meer Gezänk um Gezänk zerstückelt, wobei sich Kublai Khan Ostasiens bemächtigt hatte. Im Augenblick des Eintreffens der Polos weitete er mithilfe des Feldherrn Bayan seine Hegemonie von Nordchina (= Kataia) nach Südchina (= Manji) aus. Es war in seinen Augen eine große Zeit.
Und da der zwanzigjährige Marco die Gunst dieses Fürsten genoss und offenkundig auch von ihm geleitet und gefördert wurde, eignete sich der Jüngling die Perspektive seines Gönners an: Alles um den Großkhan war erlaucht. Alles um den Großkhan war prunkvoll. Alles um den Großkhan war gerecht und gelehrt und gedeihlich und so weiter und so weiter …
Das beginnt mit einem Loblied auf das Äußere dieses Mannes, dessen Antlitz »wie der liebliche Schein der Rose« erstrahlt und dadurch seinem Wesen Gefälligkeit verleiht. Alvise Zorzi hat diese Beschreibung mit den überlieferten Bildnissen Kublais verglichen, die einen gedrungenen Alten mit einem – in der Tat blutvollen – feisten runden Schädel zeigen, und sich prompt in seinem Schönheitssinn getäuscht gefunden: »Dies ist eine der wenigen Stellen, wo sich Marco weder als guter Beobachter noch als guter Berichterstatter erweist.« Aber erstens hat Zorzi das Sprichwort seiner lateinischen Ahnen vergessen, wonach »de gustibus non est disputandum«, also über ›Geschmäcker‹ nicht zu streiten ist; und zum Zweiten übersah er, dass Marco Polos offensichtliche Schönfärberei ein Warnsignal ausstrahlt für alle, die in der Idealisierung des Großkhans als Adonis einen »der wenigen« Ausrutscher wähnen, eine Unschärfe oder Gedächtnistrübung.
Nein! Dieses nicht enden wollende Schwärmen und Schwelgen ist reines Bewundern, ist Nachhall eines verjährten Behagens und gewiss in dem Moment, in dem es wahrgenommen wird, auch Nostalgie: Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit … Heimweh nach der Ferne. Und Kublai verkörperte sie in rosiger Anmut!
Hierin liegt die Suggestivität der Beschreibung der Welt. Denn stärkt es nicht den Glauben an das Gute, von einem zu lesen, der – wie Kublai gegen den Schuft Nayan – auszog, die Falschheit zu tilgen? Und erquickt es nicht die Seelen der Christen zu hören, dass einer wie Kublai ihre Schwestern und Brüder in der Diaspora gegen Spötter in Schutz nahm? Und ist es nicht – jetzt wird es allerdings heikel – eine Lust, sich auszumalen, wie das vonstattenging, wenn alle zwei Jahre »bis zu vier- oder fünfhundert der erlesensten jungen Mädchen« herbeigeschafft wurden, um in einer Endausscheidung (unter anderem durften sie nicht schnarchen!) zu bestimmen, welche zwanzig oder dreißig der mongolischen Jungfern für das Bett des Großkhans zurückbehalten wurden?
Überhaupt: die kleinen Unschicklichkeiten! Und die großen Zahlen!
In einer neugierig machenden Entrüstung, die dem Publikum am liebsten die Augen zuhalten würde, dann aber einen Spalt zum Hinschauen freilässt, werden in regelmäßigen Abständen die vermeintlich losen Sitten bei den durchwanderten Völkern geschildert. Dass zum Beispiel in der Nähe von Kerija (= Peyn) die Frauen sich einen neuen Mann nehmen können, sobald der alte mehr als zwanzig Tage abwesend ist – und dass dasselbe vice versa für die Männer gilt (nota bene: Die Polos waren unterdessen Hunderte von Wochen nicht mehr daheim). Oder dass in Uiguristan (= Kamul) die Hausherren ihren Besuchern die eigenen Weiber aufdrängen und sich dann zur Gewährleistung eines zwanglosen Aufenthalts ihrer Gastfreunde absetzen. Oder die Leute von Xichang (= Kaindu), die die Fremden regelrecht in ihre Hütten zerren, sich dann rücksichtsvoll