Beschreibung der Welt. Marco Polo
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Die Begeisterung des »weit ausgreifenden Wanderers« – wie ihn Goethe 1819 in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans nannte – an immensen Summen setzte sich fort, als er im Auftrag des Großkhans durch dessen Reich zog, um zu berichten, was außerhalb des Hofes ›draußen im Lande‹ geschah. Über fünfundzwanzigtausend Dirnen waren in Peking am Werk. Mehr als zweihunderttausend Pferde beschäftigte die Post. Und die Tibeter hielten ihre Töchter erst dann für heiratsfähig, nachdem sie karawanenweise von durchziehenden Händlern (hört! hört!) beschlafen worden waren. »Eine schmähliche Gewohnheit« … und ein attraktives Skandalon.
Annähernd siebzehn Jahre blieben die Polos bei Kublai Khan. Bis dahin streiften sie durch China, Vietnam, Korea (= Karli), Burma (= Mien) und 1284 – möglicherweise – durch Ceylon. Dabei notierte Marco Polo wie auf seiner Anreise, was er gesehen und gehört hatte. Er war überrascht von Erdbrocken, die gleich Kohle brennen: »Diese Steine haben keine Flamme, außer dass sie ein wenig auflodern, wenn sie angezündet werden, aber während ihres Brandes strömen sie viel Hitze aus.« Er hielt fest, welche Waren wo gehandelt wurden und wie praktisch die Erfindung des Papiergeldes ist – nicht zuletzt für den Großkhan: »In der Stadt Kambalu befindet sich die Münze des Großkhans, von dem man in Wahrheit sagen kann, dass er das Geheimnis der Alchimisten besitze […].« Über ähnliche Zauberkraft muss der König von Japan (= Zipangu) verfügt haben, dessen Palast ein Traumschloss war. »Das ganze Dach ist mit Gold plattiert, gerade so wie wir die Häuser, oder richtiger die Kirchen, mit Blei decken.« Freilich, den märchenhaften Reichtum dieser Insel in Augenschein zu nehmen war Marco Polo nicht vergönnt. Daher malte er ihn aus. In blendenden Neonfarben.
Wo alles so anders war, als es Marco aus Venedig gewohnt war, konnten sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung allzu leicht verschieben: Denn dass Niccolò und Maffeo Polo zur Belagerung von Xiangyang (= Sa-jan-fu) beispielsweise Katapulte, »wie man sie im Abendlande brauche«, konstruiert hätten, ist eine entschieden falsche Nachricht. Die Erbauer der Apparate hießen laut Auskunft chinesischer Quellen Ala-ud-din und Ismail und waren ergo Muslims (ganz zu schweigen davon, dass die Blockade schon 1274, ein Jahr vor dem Eintreffen der Polos in China, beendet worden war).
Mag sein, dass Marco Polos Flunkerei ein Fingerzeig auf eine gewisse Überfütterung mit Eindrücken ist. Darum war es vielleicht auch die Furcht der Polos, den Bezug zur Realität zu verlieren, zu ihrer Wirklichkeit, ihrer Heimat, ihren Familien, die sie schon seit Langem daran denken ließ, den Großkhan um ihren Abschied zu bitten. Zweifellos maßgeblich aber war: Als Kaufleute konnten sie rechnen. Daher fürchteten sie, dass sie nach dem Tod ihres Wohltäters Kublai, der auf die achtzig zuging, in die Ränkespiele seiner Erben verstrickt werden könnten. Sie kannten schließlich die mongolische Historie und erinnerten sich an die Wirren nach dem Ende Cinghis Khans.
Marco Polo in mongolischer Tracht, Darstellung von 1754
Da ergab sich eine günstige Gelegenheit.
Argon, der König eines in Persien ansässigen Tataren-Stamms, war kürzlich Witwer geworden. Deshalb hatte er sich an den Großkhan gewendet, er möge ihm eine Angehörige aus dem Clan seiner ersten Gemahlin schicken, auf dass er mit ihr eine zweite Ehe eingehen könne. Da Kublai bereit war, dieser Bitte zu entsprechen, übernahmen es die Polos, die junge Braut zu ihrem Gatten in spe zu geleiten.
Die Reise von Quanzhou führte anfangs um das südostasiatische Festland herum, schlängelte sich dann durch die Malakkastraße zwischen Sumatra und Malaya, berührte die Nikobaren und Andamanen und daneben, im Westen des Golfs von Bengalen, Ceylon, arbeitete sich Hafen für Hafen die Malabarküste hinauf, überquerte das Arabische Meer und erreichte nach einundzwanzig Monaten die noch wohlvertraute Schiffbauerstadt Hormus. Dort stellte sich heraus, dass Argon in der Zwischenzeit selbst gestorben war, worauf die Braut von Nordchina kurzerhand dessen Filius angetraut wurde und die Polos befreit vom Ballast ihrer Entourage Kurs auf die Heimat nehmen konnten. Nach Stationen in Trabzon (= Trebisond) und Konstantinopel sowie auf der Insel Euböa (= Negropont) gelangten sie schließlich »frisch und gesund und mit großen Reichtümern« 1295 in Venedig an. Sie hatten ihre Familien seit vierundzwanzig Jahren nicht gesehen.
Dass sich um eine Rückkunft nach derart langen Irrfahrten Legenden bilden mussten – wen wundert’s? Und so wurde um die Männer alsbald ein Szenario nach dem Motto ›Heimkehr des Odysseus‹ erfunden. Keine Commedia dell’Arte hätte eine frappantere Metamorphose von drei Zerlumpten aufführen können: Beim Finale begannen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gestenreich ihre Kleider aufzutrennen, und hervorkollerten »kostbare Geschmeide in großer Zahl, als da sind Rubine, Saphire, Karfunkel, Diamanten und Smaragde«. Hinter solchen Phantasien verlor Marco Polo für die Zukunft jede Kontur.
Was tat er nach seiner Rückkehr? Wo wohnte er? Und wie kam es, dass er sich 1298 in der Gefangenschaft der Genueser befand (aus der er am 28. August 1299 entlassen wurde)? Wo war er in solche Haft geraten? Und vor allem: wann? Schon kurz nach seiner Heimkehr, wie Giovanni Battista Ramusio im 16. Jahrhundert behauptet hat? Oder 1296, bei einem »der in die Geschichte nicht eingegangenen Scharmützel«, wie Dietmar Henze im vierten Band seiner Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde (2000) wähnte? Oder am 7. September 1298 in der Schlacht bei der Insel Korčula vor der dalmatinischen Küste, worauf Otto Emersleben in Rowohlts Monographie über Marco Polo (2002) beharrte? Wir wissen es nicht.
Einmal, als er 1299 ein Haus im Stadtviertel San Giovanni Crisostomo erwarb, und ein andermal, als er sich 1300 mit Donata vermählte, der Tochter des Kaufmanns Vidal Badoer, die ihm im Lauf der Jahre drei Töchter schenken sollte, war er für einen Moment ins Rampenlicht gekommen. Doch dann trat er schon wieder zurück in die Tiefe des Weltbühnenraums.
Gebürgt soll er haben, sagt eine Akte vom 10. April 1305. Eine andere hielt am 16. März 1306 fest, dass ihm sein Vetter Niccolò, der Sohn Marcos (des Älteren), »20 Großpfund«, »20 Lire di grossi«, schulde. Und im letzten Willen seines Onkels Maffeo vom 6. Februar 1310 wird er mit einem Edelstein bedacht. Aber was attestieren diese Rudimente anderes, als dass in Venedig ein Mann gelebt hat, der Marco Polo hieß?
Hie und da taucht sein Name noch in pergamentenen Folianten von Archiven auf: Erbschaftssachen, Verwaltungssachen, Rechtssachen. Dann war es Zeit, die Bücher zu schließen.
Am 9. Januar 1324 setzte Marco Polo sein Testament auf, »da es ein Geschenk der göttlichen Eingebung ist und die Entscheidung eines vorausdenkenden Verstandes, dass ein jeder Sorge trage, über seine Güter so zu verfügen, damit sie nicht schlecht geordnet zurückbleiben«. Den Tag, an dem er gestorben ist, kennen wir nicht.
Sein Haus an der Ecke, an welcher der Rio di San Giovanni Crisostomo und der Rio di San Lio rechtwinklig aufeinanderstoßen, ist 1596 abgebrannt. Sein Grab in der Benediktinerkirche von San Lorenzo wurde am Anfang des 19. Jahrhunderts dem Erdboden gleichgemacht.
So ist Marco Polo aus der Geschichte ebenso unauffällig entschwunden, wie er in sie eingetreten war.
Unauffällig, ja. Doch nicht spurlos. Denn immerhin haben wir seine Beschreibung der Welt.
Aber haben wir sie wirklich? Seine Beschreibung?