Cooldown. Markus Vath
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Dass man auf der anderen Seite Flexibilität als Wert überhöhen und damit Schindluder treiben kann, zeigen die USA. Dort ist der Arbeitsmarkt auf maximale Verfügbarkeit und Flexibilität des Arbeitnehmers ausgerichtet, in seiner schlechten Ausprägung als hire and fire bekannt und berüchtigt. Befürworter dieser Taktik führen manchmal an, in den USA verlöre man zwar schnell seinen Job, würde dafür jedoch auch schneller wieder eingestellt als in anderen Ländern mit einem starreren Arbeitsmarkt. Die nackten Zahlen jedoch stützen diese These eher nicht. So war 2011 ein Arbeitsloser in Deutschland im Schnitt knapp 37 Wochen ohne Beschäftigung29, in den USA dagegen über 41 Wochen (2010: 35 Wochen)30. Auch wenn man bedenkt, dass sich die USA momentan in einer wirtschaftlich angespannten Situation befinden, sollten die Beschäftigten in einer derart deregulierten, flexiblen Arbeitswelt doch deutlich schneller einen neuen Job finden als in Ländern wie Deutschland. Daher sollte diese Statistik auch den Befürwortern der reinen Flexibilitätslehre zu denken geben. Auch wenn uns die Wirklichkeit dynamischer Märkte zu mehr Flexibilisierung zwingen mag, reicht es nicht, einfach den Kündigungsschutz zu lockern oder nur von Arbeitnehmern größere Anpassungsbereitschaft und das Akzeptieren von Unsicherheit zu fordern. Die neue Unsicherheit trifft alle – Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Deswegen sollten auch die Lasten fair verteilt sein.
In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel um das 30-fache gestiegen
Auch die Arbeitgeber haben das Ausmaß der tektonischen Plattenverschiebung innerhalb der Dritten Transformation noch nicht erfasst. Die unbefristete Vollzeitstelle war als Phänomen des Wirtschaftswunders – ideal für die eher langsamen, unflexiblen Märkte, die bis Ende der 90er-Jahre das Bild beherrschten. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hat diese Entwicklung 2012 in einem Papier zur Entwicklung des Welthandels skizziert: »In den letzten 60 Jahren ist der Welthandel enorm gewachsen. Das Volumen globaler Warenexporte ist zwischen 1950 und 2008 real nahezu kontinuierlich um mehr als das 30-fache gestiegen […]. 2009 war im Zuge der globalen Finanzkrise ein Ausnahmejahr, die globalen Exporte sanken um 12 Prozent. 2010 konnte dieser Rückgang dann wieder kompensiert werden.«31
Vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer hätten während der letzten 20 Jahre die Märkte durch ihren Export enorm dynamisiert: »Im Zeitraum 1995 – 2010 erreichten die Entwicklungsländer im Durchschnitt ein jährliches reales BIP-Wachstum von 5,5 Prozent, die Industriestaaten lediglich 2,2 Prozent. Der Anteil der Entwicklungsländer am Welt-BIP hat sich damit fast verdoppelt (von 18 auf 34 Prozent).«32 Auf diese Dynamisierung müssen auch etablierte Industrieländer wie Deutschland reagieren. Das Auf und Ab wirtschaftlicher Entwicklung erfolgt nicht nur potenziell immer extremer, sondern auch schneller. Der Wunsch der Wirtschaft nach einer »atmenden« Arbeitsmarktpolitik ist daher durchaus verständlich. Doch das bislang dominante Modell der unbefristeten Vollzeitstelle einfach aufzugeben und die Regulierung und Gestaltung schlicht unter das Dach maximaler Flexibilität zu stellen in der Hoffnung, »der Markt« werde es schon richten, ist fantasielos, naiv und für das soziale Gefüge in Deutschland gefährlich. Denn »die Märkte« regeln grundsätzlich nichts. Menschen innerhalb der Märkte regeln etwas. Und wir sollten uns schleunigst überlegen, wie wir die sozialen Ängste kanalisieren und in moderne Arbeitsformen überführen. Denn ein Zurück zur guten, alten Zeit gibt es nicht mehr.
In die Fußstapfen der unbefristeten Vollzeitstelle treten ab der Jahrhundertwende allmählich neue Arbeitsformen: Befristungen, Selbstständigkeit, Projektarbeit, Mini-Jobs und Zeitarbeit. Bereits 2007 kommt der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch »Schöne neue Arbeitswelt« zu dem Schluss, dass wir uns, global gesehen, mitten im Sprung von der »ersten Moderne« in die »zweite Moderne« befinden.33 Für Beck ist die erste Moderne gekennzeichnet von Vorhersagbarkeit und Sicherheit innerhalb der politischen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Leben in der Zweiten Moderne: So viel Unvorhersehbarkeit war nie
Die zweite Moderne, der fast sein gesamtes Werk gewidmet ist, sei geprägt von immer mehr Risiko und zunehmender Komplexität, die alle Lebensbereiche durchdringe und bis dahin nicht vorhandene Unwägbarkeiten für das Schicksal des Einzelnen mit sich brächte. Beck zeichnet ein relativ düsteres Bild der ökonomischen Entwicklung, das er »Brasilianisierung der Wirtschaft« nennt: mehr Billigjobs, mehr Projektarbeit, weniger Festanstellungen, weniger berechenbare Lebensentwürfe. Um in seinem Risikobegriff zu bleiben: Die Auflösung traditioneller Arbeitsverhältnisse geht immer zulasten des Arbeitnehmers. Das unternehmerische Risiko wird demnach immer mehr vom Unternehmen weg auf die einzelnen Menschen, die »Produktivkräfte« verlagert.
Wohin die Reise geht, zeigt der Gigant IBM mit seinem Projekt »Liquid«: Künftig werden Projekte nicht mehr automatisch intern vergeben, sondern ausgeschrieben, und der einzelne Projektmitarbeiter muss sich auf der Liquid-Plattform darum erst bewerben, so jedenfalls die Idee. Bernd Bienzeisler vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) stellt ganz richtig fest, »dass hier nicht irgendein Unternehmen mal etwas Neues ausprobiert. IBM gilt seit Jahrzehnten als Vorreiter für neue, kontroverse, aber auch revolutionäre Organisationskonzepte, die nicht nur in den Hochglanzbroschüren des Managements stehen, sondern die tatsächlich praktiziert werden.« Bezüglich der Auswirkungen für die Arbeitnehmer sieht Bienzeisler große Probleme, denn »in letzter Konsequenz bedeutet ›Liquid‹ die Aufkündigung des sozialpartnerschaftlichen Modells der Arbeitsorganisation, welches darauf abzielt, Chancen und Risiken halbwegs gleichmäßig zu verteilen. Wenn die Beschäftigten sich jedoch selbst jedes Mal um Projekte aktiv bewerben müssen, ist dies kaum noch im Sinne einer abhängigen Beschäftigung zu verstehen.«34
Ulrich Beck und Bernd Bienzeisler entwerfen das Bild einer ungewissen Zukunft. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Eine größere Flexibilität in der Gestaltung der eigenen Arbeitsleistung kann auch erfüllend sein und Freiheiten schaffen, die den Begriff auch verdienen. Es tut not, sich auch mit diesen positiven Seiten zu beschäftigen. Bislang geschieht das nämlich viel zu wenig, im Gegenteil. So nähren Mainstream-Medien wie der SPIEGEL oder das ZDF nicht selten kritiklos die Angst vor neuen Arbeitsformen wie der Selbstständigkeit. Das habe ich bereits früher an anderer Stelle kommentiert.35
Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwei Dekaden stark verändert
Eine solche Haltung spiegelt das Denken der Wirtschaftswunder-Vollzeitstellen-Vollkasko-Mentalität, die wir schnellstens abschütteln sollten.
Nicht um sie durch neoliberale Religion zu ersetzen, sondern um uns tatsächlich darüber Gedanken zu machen, wie das bei uns in Deutschland denn nun aussehen soll mit den neuen Arbeitsverhältnissen. Denn die sind längst Realität:
So explodierte die Zahl der Leiharbeitnehmer von 2000 bis 2010 von 338 000 auf 824 000 – eine Steigerung um fast 244 Prozent!36
Ebenfalls deutlich angestiegen ist die Zahl der Selbstständigen in freien Berufen: von 2002 bis 2012 um 64 Prozent, von 761 000 auf 1 192 000.37
Ende 2012 waren knapp 4,9 Millionen Menschen ausschließlich geringfügig beschäftigt (»Mini-Jobber«). Dieser Wert ist seit einigen Jahren konstant. Im Klartext: Von den 29,4 Millionen abhängig Beschäftigten in Deutschland verdienen fast 17 Prozent maximal 450 Euro im Monat. (Außen vor bleiben hier die 2,7 Millionen Beschäftigten, die einen Minijob zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung ausüben).38
Insgesamt haben wir es also im Moment mit mindestens 6,9 Millionen Menschen zu