Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де Бальзак

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Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band - Оноре де Бальзак

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die anderen?« fragte Emile.

      »Die anderen? Nun, mögen sie doch nach ihrer Fasson selig werden! Ich will lieber über ihre Leiden lachen, als über meine eigenen weinen zu müssen. Ich rate es keinem Mann, mir den geringsten Kummer zuzufügen.«

      »Was hast du denn gelitten, um so zu denken?« fragte Raphael.

      »Ich bin um einer Erbschaft willen verlassen worden! Ich!« sagte sie und nahm eine Haltung an, die alle ihre Reize hervortreten ließ. »Und dabei habe ich Tag und Nacht gearbeitet, um meinen Geliebten zu ernähren. Ich will auf kein Lächeln, auf keine Versprechungen mehr reinfallen und aus meinem Leben eine lange Vergnügungspartie machen.«

      »Aber«, rief Raphael aus, »kommt das Glück denn nicht aus der Seele?«

      »Nun«, erwiderte Aquilina, »ist es nichts, sich bewundert, umschmeichelt zu sehen, über alle Frauen, selbst die tugendhaftesten, zu triumphieren, sie mit unserer Schönheit, unserem Reichtum in den Schatten zu stellen? Überhaupt, erleben wir an einem Tage nicht mehr als eine gute Bürgersfrau in zehn Jahren? Und damit ist alles gesagt.«

      »Ist eine Frau ohne Tugend nicht verabscheuungswürdig?« versetzte Emile, zu Raphael gewandt.

      Euphrasie warf ihnen einen Schlangenblick zu und antwortete mit unnachahmlicher Ironie: »Die Tugend überlassen wir den Häßlichen und Buckligen. Was wären sie denn ohne diese, die Armen?«

      »Schweig!« rief Émile, »sprich nicht von Dingen, die du nicht kennst.«

      »So! Ich kenne sie nicht!« rief Euphrasie. »Sich sein ganzes Leben lang einem verhaßten Menschen hingeben, Kinder aufziehen, die einen verlassen, und ihnen auch noch Danke sagen, wenn sie einen ins Herz treffen: das sind die Tugenden, die ihr von der Frau verlangt; und um sie für ihre Entsagung zu belohnen, legt ihr ihr neue Leiden auf, indem ihr sie zu verführen sucht; widersteht sie, so kompromittiert ihr sie. Ein schönes Leben! Nein, lieber doch frei bleiben, die lieben, die uns gefallen, und jung sterben.«

      »Fürchtest du denn nicht, dafür eines Tages zahlen zu müssen?«

      »Nun«, antwortete sie, »statt meine Freuden mit Leid zu mischen, wird mein Leben in zwei Hälften zerteilt: eine gewiß fröhliche Jugend und ein wer weiß wie ungewisses Alter, wo ich nach Belieben leiden kann.«

      »Sie hat nie geliebt«, sagte Aquilina mit dunkler Stimme. »Sie hat niemals 100 Meilen zurückgelegt, um mit tausend Wonnen einen Blick zu erhaschen und ein ›Nein‹ zu hören; sie hat ihr Leben nie an ein Haar gehängt, hat nicht soundso viele Männer niederstechen wollen, um ihren Herrn, ihren Herrscher, ihren Gott zu retten. Für sie war die Liebe ein hübscher Oberst.«

      »Haha! La Rochelle!« erwiderte Euphrasie. »Die Liebe ist wie der Wind, wir wissen nicht, woher sie kommt. Im übrigen, wenn ein Tier dich sehr geliebt hätte, würdest du die vernunftbegabten Menschen verabscheuen.«

      »Das Gesetz verbietet uns, Tiere zu lieben«, versetzte die große Aquilina spöttisch. »Ich glaubte, du seist nachsichtiger gegen das Militär!« rief Euphrasie lachend.

      »Wie glücklich sind die Frauen, daß sie sich so ihrer Vernunft entäußern können!« rief Raphael aus.

      »Glücklich?« fragte Aquilina, lächelte mitleidig und entsetzt und warf den beiden Freunden einen furchtbaren Blick zu. »Ach! ihr wißt nicht, was es heißt, mit einem Toten im Herzen zum Vergnügen verdammt zu sein.«

      Wer zu diesem Zeitpunkt einen Blick in die Salons getan hätte, der hätte eine Vorstellung von Miltons Pandämonium bekommen. Die blauen Flammen des Punsches malten Höllenfarben auf die Gesichter derer, die noch trinken konnten. Frenetische Tänze, angepeitscht von einer wilden Besessenheit, erregtem Gelächter und Geschrei, das losballerte wie ein Feuerwerk. Das Boudoir und ein kleiner Salon sahen aus wie ein von Toten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Die Atmosphäre war vom Wein, der Lust und den vielen Worten durchglüht. Rausch, Liebe, Wahnwitz, Weltvergessenheit erfüllte die Herzen, war auf den Gesichtern und stand auf den Teppichen geschrieben, prägte das allgemeine Wirrwarr und umflorte die Blicke mit Schleiern, die in der Luft betäubende Dünste sehen ließen. Flimmernder Staub wie in den Lichtbahnen eines Sonnenstrahls hing über allem und umwölkte die absonderlichsten Formen, die groteskesten Kämpfe. Hier und da schienen Gruppen verschlungener Gestalten förmlich eins geworden mit den weißen Marmorleibern edler Kunstwerke, welche die Gemächer zierten. Obwohl die beiden Freunde in ihren Gedanken und Sinnen eine gewisse trügerische Klarheit bewahrt hatten, ein letztes Aufzucken, ein unvollkommenes Scheinbild des Lebens, war es ihnen unmöglich zu erkennen, was an den bizarren Erscheinungen wirklich, was den übernatürlichen Bildern, die unaufhörlich an ihren ermüdeten Augen vorüberzogen, möglich war. Die Schwüle, die über unseren Träumen lastet, die glutvolle Anmut, die die Gestalten in unseren Visionen gewinnen, vor allem eine sonderbare, mit Ketten beladene Leichtigkeit, kurzum, die ungewohntesten Phänomene des Schlafs stürmten so lebhaft auf sie ein, daß sie die Spiele dieser Orgie für die Gaukelbilder eines Alpdrucks hielten, wo die Bewegung geräuschlos ist und die Schreie vom Ohr nicht vernommen werden. Zu diesem Zeitpunkt gelang es einem vertrauten Kammerdiener, nicht ohne Mühe, seinen Herrn in das Vorzimmer zu ziehen und ihm zuzuflüstern: »Monsieur, alle Nachbarn sind an den Fenstern und beklagen sich über den Lärm.«

      »Warum lassen sie nicht Stroh vor ihre Türen legen, wenn sie Angst vor dem Lärm haben?« rief Taillefer.

      Unvermittelt brach Raphael lauthals in ein so unangebrachtes Gelächter aus, daß sein Freund ihn nach der Ursache dieses brutalen Freudenausbruchs fragte.

      »Du würdest mich schwerlich verstehen«, antwortete er. »Zuerst müßte ich bekennen, daß ihr mich gerade in dem Augenblick auf dem Quai Voltaire traft, als ich mich in die Seine stürzen wollte, und du würdest zweifellos die Beweggründe meines Vorhabens erfahren wollen. Aber wenn ich hinzufügte, daß sich kurz zuvor, durch einen ans Fabelhafte grenzenden Zufall, die poetischsten Trümmer der materiellen Welt vor meinen Augen zu einer symbolischen Gestalt der menschlichen Weisheit zusammenfügten, während in diesem Augenblick die Trümmer aller intellektuellen Schätze, die wir bei Tisch durcheinanderwarfen, auf diese beiden Frauen, die leibhaftigen Urbilder der Torheit, hinauslaufen; und daß unsere tiefe Unbekümmertheit um Menschen und Dinge nur als Übergang zu den farbenprächtigen Bildern zweier sich so diametral gegenüberstehenden Lebensweisen diente, würdest du davon klüger sein? Wenn du nicht so betrunken wärst, sähest du vielleicht eine philosophische Abhandlung darin.«

      »Wenn du nicht beide Füße auf dieser hinreißenden Aquilina hättest, deren Schnarchen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Grollen eines nahenden Gewitters hat«, erwiderte Emile, der sich seinerseits damit vergnügte, Euphrasies Haare zusammen- und auseinanderzurollen, ohne daß ihm diese unschuldige Beschäftigung recht bewußt war, »würdest du über deine Betrunkenheit und dein Gefasel schamrot werden. Deine beiden Lebensweisen kann man mit einem einzigen Satz auf einen Nenner bringen. Das einfache mechanische Leben führt zu irgendeiner unsinnigen Weisheit, indem es unsere Intelligenz durch die Arbeit erstickt, während das Leben, das man in der Leere der Abstraktionen oder in den Abgründen der moralischen Welt verbringt, zu irgendeiner närrischen Weisheit führt. Mit einem Wort: die Gefühle töten, damit man alt wird, oder jung sterben, indem man das Martyrium der Leidenschaften auf sich nimmt, das ist unser Entweder-Oder. Allerdings ist diese Bestimmung uneins mit den Temperamenten, die uns der strenge Spaßvogel, dem wir das Muster aller Kreatur verdanken, mitgegeben hat.«

      »Esel!« unterbrach ihn Raphael: »Fahre nur fort, dich selbst solcherart auf Kurzfassung zu bringen, und du füllst Bände. Wenn ich mir angemaßt hätte, diese beiden Auffassungen präzise und knapp zu formulieren, hätte ich dir gesagt, daß der Gebrauch des Verstandes den Menschen verdirbt, die Unwissenheit ihn läutert. Das heißt die Gesellschaften antasten wollen? Aber ob wir mit den Weisen leben oder mit den Narren zugrunde gehen, ist das Resultat

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