Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де Бальзак
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Читать онлайн книгу Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band - Оноре де Бальзак страница 18
»Ach, wenn du mein Leben kenntest.«
»Oh! ich hätte dich für weniger banal gehalten, die Phrase ist abgedroschen. Weißt du nicht, daß wir uns alle einbilden, weit mehr als die anderen zu leiden?«
»Ach!« seufzte Raphael. »Was bist du lächerlich mit deinem dauernden Ach! Was ist los? Zwingt dich eine Krankheit der Seele oder des Leibes, durch eine Muskelkontraktion alle Morgen die Pferde vorzuführen, die dich am Abend vierteilen sollen, wie dazumal Damiens? Hast du deinen Hund roh und ungesalzen in deiner Dachstube verzehrt? Haben deine Kinder jemals zu dir gesagt: ›Ich habe Hunger‹? Hast du die Haare deiner Geliebten verkauft, um zum Spiel gehen zu können? Bist du jemals in eine falsche Wohnung gelaufen, um einen auf einen falschen Onkel gezogenen falschen Wechsel zu bezahlen, mit der Furcht im Nacken, zu spät zu kommen? Nun, laß hören! Wolltest du jedoch einer Frau oder eines abgewiesenen Wechsels wegen oder aus Langerweile ins Wasser gehen, so würdige ich dich keines Blickes mehr. Bekenne, lüge nicht; ich verlange keine historischen Memoiren von dir! Vor allem: sei so kurz, wie dein Rausch es erlaubt. Ich bin anspruchsvoll wie ein Leser und schläfrig wie eine Frau beim Abendgebet.«
»Armer Tor! Seit wann bestimmen die Schmerzen den Grad der Empfindsamkeit? Wenn wir in der Wissenschaft einmal so weit sein werden, eine Naturgeschichte der Herzen aufzustellen, sie zu benennen, sie in Arten, Unterarten, Familien, in Krustazeen, Fossilien, Saurier, in Kleinstlebewesen und – was weiß ich – noch alles einzuteilen, dann, lieber Freund, wird es bewiesen sein, daß es Herzen gibt, die so zart und empfindlich sind wie Blumen und gleich ihnen von einer leichten Berührung gebrochen werden können, die gewisse versteinerte Herzen nicht einmal spüren.«
»Oh! ich bitte dich, verschone mich mit deiner Vorrede«, sagte [È]mile mit einer halb lachenden, halb kläglichen Miene und faßte Raphael bei der Hand.
Die Frau ohne Herz
Nach einem kurzen Schweigen sagte Raphael leichthin: »Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich dem Dunst des Weins und des Punsches die Klarheit zuschreiben soll, die mich in diesem Augenblick mein ganzes Leben in einem einzigen Gemälde erschauen läßt, auf welchem die Gestalten, die Farben, die Lichter, die Schatten und Halbschatten getreulich wiedergegeben sind. Dies poetische Spiel meiner Einbildungskraft würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn es nicht von einer gewissen Verachtung für meine vergangenen Schmerzen und Freuden begleitet wäre. Aus der Entfernung betrachtet, ist mein Leben durch ein geistiges Phänomen wie zusammengeschrumpft. Dieser lange, schleichende Schmerz, der zehn Jahre gedauert hat, läßt sich heute durch ein paar Sätze wiedergeben, in denen der Schmerz nur noch ein Gedanke und die Freude eine philosophische Betrachtung ist. Ich urteile, statt zu empfinden…«
»Du bist langweilig wie ein Zusatzantrag, der im Parlament diskutiert wird«, warf Émile ein.
»Kann sein«, erwiderte Raphael ohne Murren; »so will ich dir, um deinen Ohren nicht allzuviel zuzumuten, die ersten siebzehn Jahre meines Lebens schenken. Bis dahin habe ich gelebt wie du, wie tausend andere, das Leben eines Schülers, dessen eingebildete Leiden und wirkliche Freuden unsere Erinnerung entzücken und nach dessen Fastenspeise unser verwöhnter Gaumen stets zurückverlangt, solange wir sie nicht von neuem genossen haben: schönes Leben, dessen Arbeiten uns verächtlich scheinen und das uns doch zu arbeiten gelehrt hat…«
»Komm zum Drama!« sagte Émile in einem halb komischen, halb klagenden Ton.
»Als ich das Collège verlassen hatte«, erwiderte Raphael und bekundete mit einer entschiedenen Handbewegung das Recht fortzufahren, »unterwarf mich mein Vater einer strengen Disziplin, er logierte mich in einem Zimmer ein, das neben seinem lag. Ich ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um fünf Uhr morgens auf; nach seinem Willen sollte ich gewissenhaft die Rechte studieren. Ich besuchte die juristische Fakultät und arbeitete gleichzeitig bei einem Advokaten; aber die Gesetze von Zeit und Raum wurden so peinlich auf meine Ausgänge, meine Arbeiten angewendet, und mein Vater verlangte solch genaue Rechenschaft über …«
»Was geht denn mich das an?« unterbrach ihn Émile.
»Nun denn, hol dich der Teufel!« erwiderte Raphael. »Wie kannst du meine Gefühle begreifen, wenn ich dir nicht all die unbedeutenden Umstände schildere, die meine Seele beeinflußten, mich furchtsam werden ließen und mich lange in der kindlichen Einfalt des Jünglings befangen hielten? Bis zu meinem einundzwanzigsten Jahr hatte ich mich einem Despotismus zu beugen, der so hart war wie eine Klosterregel. Um dir das ganze Elend meines damaligen Lebens begreiflich zu machen, genügt es vielleicht, dir meinen Vater zu beschreiben: Er war ein großer, dürrer, engbrüstiger Mann mit einem bleichen Gesicht, scharf geschnitten wie eine Messerklinge, kurz angebunden, zänkisch wie eine alte Jungfer und kleinlich wie ein Bürovorsteher. Seine Vaterwürde schwebte drohend über meinen schelmischen und fröhlichen Gedanken und hielt sie wie unter einer bleiernen Kuppel gefangen. Wenn ich ihm ein liebevolles, zärtliches Gefühl bezeigen wollte, behandelte er mich wie ein Kind, das eine Dummheit sagen will; ich fürchtete ihn weit mehr als früher unsere Schulmeister; in seinen Augen war ich immer acht Jahre alt. Ich glaube ihn noch vor mir zu sehen. In seinem kastanienbraunen Überrock, in dem er sich geradehielt wie eine Osterkerze, sah er wie ein Bückling aus, der in das rötliche Papier eines Pamphlets gewickelt ist. Trotzdem liebte ich meinen Vater: im Grunde war er gerecht. Vielleicht hassen wir die Strenge dann nicht, wenn sie durch einen aufrechten Charakter, durch reine Sitten gerechtfertigt und geschickt mit Güte verbunden wird. Obgleich mein Vater nie von meiner Seite wich, mir bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr keine zehn Francs zu meiner Verfügung ließ, zehn elende, lumpige Francs, ein unermeßlicher Reichtum, deren vergebens erhoffter Besitz mich maßlos beglückt hätte, so suchte er mir wenigtens einige Zerstreuungen zu verschaffen. Nachdem er mir monatelang ein Vergnügen versprochen hatte, führte er mich in die Bouffons, in ein Konzert, auf einen Ball, wo ich eine Geliebte zu finden hoffte. Eine Geliebte! Das hieß für mich Unabhängigkeit. Aber verschämt und schüchtern, wie ich war, weder die Sprache der Salons noch irgend jemanden dort kannte, kehrte ich stets mit demselben unerfahrenen, von unerfüllten Wünschen übervollem Herzen wieder nach Hause zurück. Am nächsten Morgen mußte ich dann, von meinem Vater wie ein Schwadronspferd an der Kandare gehalten, von früh an erst zu einem Advokaten, dann in die Fakultät, dann in den Justizpalast. Hätte ich versucht, von dem einförmigen Weg, den mein Vater mir vorgezeichnet hatte, abzuweichen, hätte ich seinen Zorn auf mich geladen; er hatte mir gedroht, mich bei meinem ersten Vergehen als Schiffsjunge nach den Antillen einzuschiffen. Wenn ich dennoch gelegentlich wagte, mich dieser Gefahr auszusetzen, auf ein oder zwei Stunden, für irgendein harmloses Vergnügen, so stand ich furchtbare Angst dabei aus. Stell dir vor, die schwärmerischste Phantasie, das liebevollste Herz, das zärtlichste Gemüt, den poetischsten Geist immerfort dem unnachgiebigsten, sauertöpfischsten, kältesten Menschen der Welt ausgesetzt; kurzum, verheirate ein junges Mädchen mit einem Skelett, und du wirst die merkwürdigen Szenen eines solchen Daseins verstehen, die ich dir nur andeuten kann: Fluchtpläne, die beim Anblick meines Vaters zunichte wurden, Verzweiflungsausbrüche, die der Schlaf besänftigte, unterdrückte Wünsche und finstere Schwermut, die in der Musik Linderung fanden. Ich verströmte mein Unglück in Melodien. Mozart oder Beethoven waren häufig meine verschwiegenen Vertrauten. Heute muß ich lächeln, wenn ich mich all der Vorurteile erinnere, die mein Gewissen in dieser Periode der Unschuld und Tugend beunruhigten. Den Fuß in eine Gaststätte zu setzen, hätte ich für mein Verderben