Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band. Оноре де Бальзак

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Gesammelte Romane: 15 Romane in einem Band - Оноре де Бальзак

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boten. Lange, braune Locken umhüllten halb einen majestätischen Hals, über den das Licht zuweilen dahinglitt und die Feinheit grazilster Konturen enthüllte. Die mattweiße Haut ließ die warmen Töne ihres kräftigen Teints lebhaft hervortreten. Das von langen Wimpern beschattete Auge schleuderte kühne Blitze, Liebesfunken. Die roten, feuchten, halboffenen Lippen luden zum Kusse ein. Sie war kräftig gebaut, aber reizvoll geschmeidig; ihre Brust und ihre Arme waren üppig wie bei den schönen Gestalten von; bei alledem schien sie leicht und gewandt und ihre Kraft mahnte an die Behendigkeit einer Pantherkatze, so wie die männliche Eleganz ihrer Formen verzehrende Wollust verhieß. Obwohl dieses Mädchen zweifellos lachen und schäkern konnte, schrak man vor ihren Augen und ihrem Lächeln zuinnerst zurück. Gleich jenen von einem Dämon besessenen Prophetinnen rief sie mehr Staunen als Wohlgefallen hervor. Auf ihrem beweglichen Gesicht wechselte der Ausdruck blitzartig, in rascher Folge. Blasierte Männer hätte sie vielleicht entzückt, aber einem jungen Mann mußte sie Furcht einflößen. Sie war wie eine Kolossalstatue, die von einem griechischen Tempel herabgestürzt ist, wundervoll aus der Entfernung, aber von nahem betrachtet grob. Nichtsdestoweniger hätte ihre blendende Schönheit Ohnmächtige wecken, ihre Stimme Taube entzücken, ihre Blicke alte Gebeine neu beleben können. Darum verglich Émile das Mädchen mit einer Tragödie von Shakespeare, einer Art bewundernswürdiger Arabeske, wo die Freude brüllt, die Liebe etwas unbeschreiblich Wildes hat und wo auf das blutrünstige Toben des Zornes der Zauber der Anmut und das Feuer des Glückes folgen; einem Ungeheuer, das beißen und schmeicheln, wie ein Teufel lachen, wie Engel weinen kann, das in einer einzigen Umarmung alle Verführungskünste des Weibes spielen lässt, ausgenommen die Seufzer der Melancholie und die bezaubernde Sittsamkeit der Jungfrau; das dann plötzlich losbricht, sich die Flanken zerfleischt, seine Leidenschaft zerbricht, seinen Geliebten und schließlich sich selbst vernichtet wie ein aufrührerisches Volk. In einem rotsamtenen Gewand näherte sie sich, zertrat achtlos die Blumen, die schon aus den Haaren einiger Gefährtinnen gefallen waren, und hielt den beiden Freunden mit hochmütiger Gebärde eine silberne Platte hin. Stolz auf ihre Schönheit, stolz auf ihre Laster vielleicht, zeigte sie einen weißen Arm, der sich leuchtend vom Samt des Kleides abhob. Sie stand da wie die Königin der Lust, wie ein Bild menschlicher Sinnesfreude, jener Freude, welche die von drei Generationen angesammelten Schätze verschleudert, über Leichnamen lacht, Vorfahren höhnt, Perlen und Throne in nichts auflöst, Jünglinge in Greise und Greise häufig in Jünglinge verwandelt; jener Freude, die einzig solch Riesen gestattet ist, die der Macht überdrüssig sind, die im Denken erprobt sind oder für die der Krieg zum Kinderspiel geworden ist.

      »Wie heißt du?« fragte Raphael sie.

      »Aquilina.«

      »Oh, oh!« rief Emile, »du kommst aus dem ›Geretteten Venedig‹!«

      »Ja«, erwiderte sie. »Wie sich die Päpste neue Namen geben, wenn sie sich über die Menschen erheben, habe ich einen anderen angenommen, als ich mich über alle Frauen erhob.«

      »Hast du denn, wie deine Schutzpatronin, einen edlen und schrecklichen Verschwörer, der dich liebt und für dich zu sterben bereit ist?« fragte Emile lebhaft, den dieser Anschein von Poesie wieder aufrüttelte. »Ich hatte ihn«, antwortete sie; »aber die Guillotine ist meine Rivalin gewesen. Darum trage ich auch immer etwas Rotes in meinem Putz, damit meine Freude nie zu weit geht.«

      »Oh, wenn Sie sie die Geschichte der vier jungen Männer von La Rochelle erzählen lassen, findet sie kein Ende. – Sei nur still, Aquilina! Haben nicht alle Frauen einen Geliebten zu beweinen? Aber nicht alle hatten das Glück wie du, ihn an das Schafott zu verlieren. Wahrhaftig! Ich möchte meinen weit lieber in einer Grube in Clamart wissen, als in dem Bett einer anderen.«

      Diese Sätze wurden von einer sanften, melodischen Stimme gesprochen, die dem unschuldigsten, hübschesten, niedlichsten kleinen Geschöpf gehörte, das je unter dem Zauberstab einer Fee aus einem Zauberei geschlüpft ist. Sie war lautlos herangekommen und zeigte ein feines Gesicht, eine zarte Gestalt, blaue Augen von entzückender Sittsamkeit, eine frische, reine Stirn. Eine kindliche Najade, die aus ihrer Quelle taucht, ist nicht schüchterner, weißer, unschuldiger als dieses junge Mädchen, das sechzehn Jahre alt, von Leid und von Liebe nichts zu wissen, von den Stürmen des Lebens verschont zu sein und gerade eben aus einer Kirche zu kommen schien, wo sie die Engel angefleht hatte, sie vor der Zeit zu sich in den Himmel zu rufen. Nur in Paris findet man diese Geschöpfe mit dem unschuldsvollen Antlitz, die unter einer Stirn, so hold und lieblich wie ein Gänseblümchen, die tiefste Verderbtheit, die raffiniertesten Laster verbergen. Von den himmlischen Verheißungen in den lieblichen Zügen des jungen Mädchens anfänglich getäuscht, nahmen Emile und Raphael den Kaffee, den sie ihnen in die von Aquilina gereichten Tassen einschenkte, und begannen sie auszufragen. In den Augen der beiden Dichter vervollständigte sie gleichsam durch eine unheimliche Allegorie das Bild einer gewissen Seite des menschlichen Lebens, indem sie dem wilden, leidenschaftlichen Ausdruck ihrer imposanten Gefährtin diese kalte, wollüstige, grausame Verdorbenheit gegenüberstellte, die leichtfertig genug ist, ein Verbrechen zu begehen, stark genug, sich lachend darüber hinwegzusetzen; ein Dämon ohne Herz, der reiche zärtliche Seelen dafür bestraft, daß sie Empfindungen haben, deren er unfähig ist, der immer eine Liebesgrimasse zu verkaufen hat, Tränen für den Leichenzug seines Opfers und Jubel, wenn er am Abend dessen Testament liest. Ein Dichter hätte die schöne Aquilina bewundern können; aber die rührende Euphrasie müßte die ganze Welt fliehen: die eine war die Seele des Lasters, die andere das Laster ohne Seele.

      »Ich möchte wohl wissen«, fragte Emile das hübsche Geschöpf, »ob du bisweilen an die Zukunft denkst.«

      »Die Zukunft?« erwiderte sie lachend. »Was nennen Sie die Zukunft? Warum soll ich an etwas denken, was noch nicht ist? Ich blicke nie zurück und nie voraus. Ist es nicht schon zuviel, wenn ich mich mit einem ganzen Tag beschäftige? Im übrigen kennen wir die Zukunft. Sie ist das Spital.«

      »Wie kannst du das Spital jetzt schon voraussehen und nicht vermeiden wollen, hineinzukommen?« rief Raphael.

      »Was hat das Spital denn so Furchtbares?« fragte die schreckliche Aquilina. »Wenn wir weder Mütter noch Gattinnen sind, wenn das Alter uns schwarze Strümpfe auf die Beine und Runzeln über unsere Stirnen zieht, wenn es alles, was an uns Weib ist, welk macht und die Freude in den Blicken unserer Freunde auslöscht, was können wir dann noch weiter wollen? Von all unserer jetzigen Schönheit seht ihr nur mehr ein Stück Dreck in uns, das auf zwei Beinen einherschlottert, kalt, dürr und entstellt ist und im Gehen raschelt wie welkes Laub. Der schönste Putz wird uns zu Lumpen, das Ambra, das unser Boudoir durchduftete, riecht nach Moder und Verwesung; und wenn in diesem Kot ein Herz steckt, so sprecht ihr alle ihm Hohn und gestattet uns nicht einmal die Erinnerung. Ob wir also dann in einem reichen Haus wohnen und Hunde warten oder im Spital Lumpen sortieren, ist unser Dasein nicht genau daßelbe? Ob wir unsere weißen Haare unter einem rot-blau-karierten Taschentuch oder unter Spitzen verstecken, ob wir die Straße mit Rutenbesen oder die Stufen der Tuilerien mit Atlasschleppen fegen, ob wir an vergoldeten Kaminen sitzen oder uns die Hände an einem irdenen Kohlen-Topf wärmen, dem Spektakel auf der Place de Grève zuschauen oder in die Oper gehen: Ist das ein so großer Unterschied?«

      »Aquilina mia, niemals hast du in all deiner Verzweiflung so recht gehabt«, sagte Euphrasie; »ja, Kaschmir, Spitzen, Parfüms, Gold, Seide und Luxus, alles, was glänzt, was gefällt, steht nur der Jugend gut. Die Zeit allein könnte gegen unsere Torheiten recht behalten, aber das Glück spricht uns frei. – Sie lachen über meine Worte«, rief sie und lächelte den beiden Freunden boshaft zu; »habe ich nicht recht? Ich sterbe lieber am Vergnügen als an einer Krankheit. Ich habe weder die Manie, lange leben zu wollen, noch großen Respekt vor der menschlichen Gattung, wenn ich sehe, was Gott daraus macht. Gebt mir Millionen, ich werde sie durchbringen; nicht einen Centime davon würde ich für das nächste Jahr sparen. Leben, um zu gefallen und zu herrschen, das ist die Maxime, die jeder Schlag meines Herzens kundgibt. Die Gesellschaft pflichtet mir bei; befriedigt sie nicht dauernd meine Vergnügungssucht? Warum läßt mir denn der liebe Gott jeden Morgen zukommen, was ich am Abend ausgebe? Warum baut ihr uns Spitäler? Da er uns nicht die Wahl gelassen

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