Mami Staffel 3 – Familienroman. Gisela Reutling
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Aber als sie die Mappe aufschlug, war diese leer.
*
Christoph Falkenroth wirkte nervös und angespannt. Trotzdem hellte sich sein Gesicht auf, als er Christine Kohse vor der Tür stehen sah. »Schön, daß Sie kommen. Leider sieht es hier ziemlich chaotisch aus! Mir ist eine echte Katastrophe passiert.« Er führte sie in sein Arbeitszimmer, in dem jeder Ordner, jede Schublade, jede Schreibmappe auf das sorgfältigste untersucht worden waren. Überall lagen Papiere und handgeschriebene Notizbuchseiten wild durcheinander.
»Ich hätte doch einen Safe einbauen lassen sollen«, stöhnte er. »Es war unverzeihlich leichtsinnig, diese wertvollen Handschriften einfach so herumliegen zu lassen.«
Christine räusperte sich. »Ich muß Ihnen etwas sehr Wichtiges sagen. Der Brief, den Sie vermissen, haben meine Kinder Ihnen entwendet.«
Fassungslos blickte er sie an. »Das ist doch nicht möglich!«
Sie seufzte. »Leider doch. Sie haben den Brief schon am Wochenende gestohlen. Anscheinend dachten sie, Sie wären ein geheimer Agent oder so etwas. Ich schäme mich wirklich, Ihnen das zu erzählen.«
Christoph Falkenroth führte sie kopfschüttelnd in den Salon, einen sehr schön geschnittenen, aber doch renovierungsbedürftigen Raum mit einem großen Erker. Ein riesiges dunkelrotes Sofa stand vor einem schweren Mahagonitisch. Christine lehnte sich in die weichen Polster zurück und schloß für einen Moment die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Es ist mir so schrecklich unangenehm.«
»Für Ihre Kinder war ich also so eine Art James Bond?«
Christine lächelte schwach. »Ich fürchte, Sie hatten eher die Schurkenrolle. Die Kinder sind bei Ihnen durchs Fenster eingestiegen und haben den Brief gestohlen. Aber das Schlimmste kommt erst noch.« Professor Falkenroth sah sie alarmiert an. »Ist der Brief etwa beschädigt worden?«
»Noch schlimmer«, sagte sie leise. »Er ist verschwunden.« Christoph unterdrückte einen Fluch. Er sprang auf und schritt nervös im Zimmer auf und ab. »Ich werde den Brief sicher finden«, versicherte Christine. »Er muß irgendwo bei uns im Haus sein, und wir werden alles auf den Kopf stellen, um ihn zu finden, glauben Sie mir.« Ihre großen blauen Augen blickten ihn hilflos an. »Wie kann ich das bloß wiedergutmachen?«
Christoph Falkenroth erschrak, als er eine Träne über ihre Wange rollen sah. »Bitte, regen Sie sich nicht auf!« Er reichte ihr ein Taschentuch. »Soll ich Ihnen einen Tee kochen?« Er war so besorgt, daß sie lächeln mußte. »Sie tun gerade so, als ob ich Trost bräuchte und nicht Sie. Aber ich hätte gern ein bißchen Tee.«
Während er in der Küche war, kramte sie eilig ihren Taschenspiegel aus der Handtasche, fuhr sich über die verwirrten Haare und tupfte etwas Puder auf ihre Nase. Sie wunderte sich über sich selbst, daß ihr Herz so heftig klopfte. Kurz darauf kam er mit einem Tablett zurück, auf dem eine Teekanne und zwei hauchdünne japanische Tassen standen.
»Was für wunderschönes Porzellan!« rief Christine begeistert aus und drehte das zarte Trinkgefäß in der Hand. »So etwas habe ich bisher nur im Museum gesehen.« Er lächelte leicht verlegen. »Eigentlich sind die ganzen schönen Dinge, die meine Tante mir hinterlassen hat, an mich Einsiedler völlig verschwendet. Ich trinke meistens aus einem häßlichen Steingutbecher. Wahrscheinlich lebe ich zuviel allein. Nun ja, wenn mein Buch fertig ist, ziehe ich ja wieder in die Großstadt.« Er sagte es ohne große Begeisterung.
Nachdem sie den Tee getrunken hatte, stand Christine auf, um sich zu verabschieden. Noch einmal versprach sie hoch und heilig, in allen Ecken und Winkeln des Dachbodens und der Kinderzimmer nach dem verschwundenen Brief zu suchen. »Übrigens verstehe ich es, wenn Sie den Diebstahl der Polizei melden möchten«, fügte sie beherrscht hinzu.
»Aber nein! Ich finde, das sollte wirklich der letzte Ausweg sein«, meinte er. »Der Brief wird schon von selbst wieder auftauchen!« Sie spürte, daß er sich zuversichtlicher gab, als er war, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen, und sie empfand tiefe Dankbarkeit für ihn.
»Wollen Sie durch die Gärten gehen? Das scheint ja ohnehin der übliche Verbindungsweg zwischen unseren Häusern zu sein«, meinte er und lächelte ein bißchen. Sie traten gemeinsam auf die Veranda. Christine atmete die laue, sommerliche Abendluft tief ein. Am Himmel leuchteten eine schmale weiße Mondsichel und unzählige Sterne.
Sie schlenderten langsam und schweigend durch den verwilderten Garten, in dem die letzten Blüten der alten, knorrigen Obstbäume ihren Duft mit dem der Wildblumen vermengten. Am anderen Ende des Gartens, wo weiße Kirschbaumblüten das Gras wie ein Teppich bedeckten, blieben sie stehen und sahen einander lange an. »Gute Nacht!« sagte Christoph Falkenroth schließlich leise. Sie fühlte seinen warmen, festen, zuverlässigen Händedruck und zögerte. Gern hätte sie länger mit ihm im stillen Licht des Mondes gestanden. Aber dann wandte sie sich rasch ab und schlüpfte geschmeidig durch das schmale Loch in der Hecke.
*
Am nächsten Morgen warteten einige Überraschungen auf Christoph Falkenroth. Als er aus dem Haus gehen wolle, saß vor der Tür ein alter, abgewetzter Teddybär, dessen löchrigem Pelz man ansah, daß er lange als Lieblingsspielzeug gedient hatte. Er hob ihn auf und mußte lächeln. Ob ein Kind den Teddy verloren hatte? Aber wie war er dann vor seine Haustür geraten?
Kaum nach Hause zurückgekehrt, setzte er sich an seinen Schreibtisch und vertiefte sich in seine Arbeit. Niemand störte ihn. Erst am späten Nachmittag hörte er leise Geräusche im Garten. Christoph stand auf und ging zur Verandatür. Er hatte schon halb erwartet, dort wieder eine Gabe zu finden, und tatsächlich stand ein großer Korb vor der Tür. Er bückte sich, nahm das appetitliche weiße Tuch fort und sah einen großen Rosinenkuchen. Daneben lag ein bunt bedruckter Briefumschlag. Neugierig las er den in krakeliger Schönschrift geschriebenen Brief:
Lieber Herr Falkenroth! Es tut uns sehr leid, daß wir Sie für einen Spion gehalten haben. Wir finden das Geheimpapier aber ganz bestimmt wieder!!! Ich habe den Kuchen selbst gebacken. Markus hat geholfen. Bitte seien Sie uns nicht mehr böse!
Hochachtungsvoll Julia Kohse.
Auch Markus und Florentine hatten unterschrieben. Christoph Falkenroth lächelte. Dann fiel
ihm ein, daß die Kinder ihn
bestimmt beobachteten. Er hob den Kopf, und einen Moment
lang kam es ihm vor, als habe
sich an der Hecke etwas bewegt. Aber schon war wieder alles ruhig.
Er stellte den Korb in die Küche, kochte Kaffee und schnitt sich ein Stück von dem Kuchen ab. Abgesehen davon, daß der Kuchen dazu neigte, in große Brocken zu zerfallen, war er sehr lecker. Ein plötzlicher Impuls brachte ihn dazu, auch den Teddybären in die Küche zu holen. Er setzte ihn auf den Küchentisch und hatte fast das Gefühl, als würde das Stofftier ihm bei seinem einsamen Mahl Gesellschaft leisten.
Als er sich die zweite Tasse Kaffee einschenkte, fiel sein Blick aufs Fenster. Die drei Köpfe hinter der Scheibe duckten sich nicht schnell genug. Christoph eilte zur Verandatür. Draußen standen die Kinder in einer Reihe wie die Orgelpfeifen und senkten verlegen die Köpfe.
Er runzelte die Stirn und machte seine klangvolle Baßstimme noch tiefer, als sie von Natur aus war. »Das ist ja unerhört!« sagte er grollend. »Was habt ihr denn hier zu suchen?« Markus steckte beschämt einen Finger in den Mund, Julia scharrte mit den Füßen