Wilhelm Hauff: Märchen, Romane, Erzählungen & Gedichte. Wilhelm Hauff
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Rechne man es nicht uns zur Schuld, wenn wir Schändlichkeiten aufdecken, die jahrelang gedruckt zu lesen sind. Eine junge Dame kömmt eines Tages auf Claurens Zimmer. Sie klagt ihm nach einigen Vorreden, daß sie zwar seit 14 Tagen verheiratet, und glücklich verheiratet, aber durch einen kleinen Ehebruch von einer Krankheit angesteckt worden sei, die ihr Mann nicht ahnen dürfe. H. Clauren erzählt uns, daß er der engelschönen Dame gesagt, sie sei nicht zu heilen, wenn sie ihm nicht den Grad der Krankheit et cetera zeige. Die Dame entschließt sich zu der Prozedur. Ich dächte, das Bisherige ist so ziemlich der höchste Grad der Schändlichkeit, zum mindesten ein hoher Grad von Frechheit, dergleichen in einem belletristischen Blatt zur Sprache zu bringen. Eine Dame, glücklich verheiratet, seit 14 Tagen ein glückliches Weib und Ehebrecherin! Aber nein! Der Faun hat hieran nicht genug; er ladet uns zu der Prozedur selbst ein; er rückt den Sessel ans Fenster, er setzt die Dame in Positur, er beschreibt uns von der Zehenspitze aufwärts seine Beobachtungen!!!
Ich wiederhole es, man kann von einem solchen Frevel nur zu sprechen wagen, wenn er offenkundig geworden ist, wenn man die Absicht hat, ihn zu rügen. Warum in einem öffentlichen Blatte etwas erzählen, was man in guter Gesellschaft nicht erwähnen darf? Aber das ist H. Clauren, der geliebte, verehrte, geachtete Schriftsteller, der Mann des Volkes. Schande genug für ein Publikum, das sich Schändlichkeiten dieser Art ungestraft erzählen läßt!
In die eben erwähnte Kategorie von berechnetem Augenreiz für Männer gehören auch die Situationen, in welchen wir oft die Heldinnen finden. Bald wird uns ausführlich beschrieben, wie Magdalis aussah, als sie zu Bette gebracht wurde, bald weidet man sich mit Herrn Stern an Doralicens Angst, zu zwei schlafen zu müssen, bald hört man Vally im Bade plätschern, und möchte ihrer naiven Einladung dahin folgen, bald sieht man ein Kammermädchen im Hemde, das kichernd um Pardon bittet, der glühenden, durch alle Nerven zitternden Küsse, der Blicke beim Tanze abwärts auf die Wellenlinien der Tänzerinnen u. dgl, nicht zu gedenken; Honigworte für Leute, die nichts Höheres kennen als Sinnlichkeit, köstlich kandierte Zoten für einen verwöhnten Gaumen, treffliches Hausmittel für junge Wüstlinge und alte Gecken, die mit ihrer moralischen und physischen Kraft zu Rande sind, um dem Restchen Leben durch diese Reizmittel aufzuhelfen!!
Ein zweites Reizmittel für Männer sind jene Zutaten, die den Gaumen kitzeln. »Heda Kellner, hieher sechs Flaschen des brüsselnden Schaumweins; ha, wie der Kork knallend an die Decke fährt! eingeschenkt, laßt ihn nicht verrauchen; jetzt für jeden zwei, drei Dutzend Austern draufgesetzt.« Ist diese Sprache nicht herrlich? wird man nicht an Homer erinnert, der immer so redlich angibt, was seine Helden verspeisten; freilich gab er ihnen nur gewöhnliches »Schweinefleisch«, und die Weinsorten rühmt er auch nicht besonders; aber ein Clauren ist denn doch auch etwas anderes als Homer; wer wollte es übelnehmen, wenn er die Korke fliegen läßt und Austern schmaust, 500 Stück zum ersten Anfang?
Ich kannte einen jener bedauerungswürdigen Menschen, die man in glänzendem Gewand, mit zufriedener Miene auf den Promenaden umherschlendern sieht. Ihr haltet sie für das glücklichste Geschlecht der Menschen, diese Pflastertreter; sie haben nichts zu tun und vollauf zu leben. Ihr täuschet euch; oft hat ein solcher Herr nicht so viel kleine Münze, um eine einfache Mittagskost zu bezahlen, und was er an großem Gelde bei sich trägt, kann man nicht wohl wechseln. Einen solchen nun fragte ich eines Tages: »Freund, wo speiset Ihr zu Mittag? Ich sehe Euch immer nach der Tafelzeit mit zufriedener Miene die Straße herabkommen, mit der Zunge schnalzend, oder in den Zähnen stochernd, bei welchem berühmten Restaurant speiset Ihr?«
»Bei Clauren«, gab er mir zur Antwort.
»Bei Clauren?« rief ich verwundert, »erinnere ich mich doch nicht, einen Straßenwirt oder Garkoch dieses Namens in hiesiger Stadt gesehen zu haben.«
»Da habt Ihr recht«, entgegnete er, »es ist aber auch kein hiesiger, sondern der Berliner, H. Clauren –«
»Wie, und dieser schickt Euch kalte Küche bis hieher?«
»Kalte und warme Küche nebst etzlichem Getränke. Doch ich will euch das Rätsel lösen«, fuhr er fort, »ich bin arm, und was ich habe, nimmt jährlich gerade der Schneiderkonto und die Rechnung für Zuckerwasser im Kaffeehause weg; nun bin ich aber gewöhnt, gute Tafel zu halten, was fange ich in diesen Zeiten an, wo niemand borgt und vorstreckt? Ich kaufe mir alle Jahre von ersparten Groschen das herrliche ›Vergißmeinnicht‹ von H. Clauren, und ich versichere Euch, das ist mir Speisekammer, Keller, Fischmarkt, Konditorei, Weinhandlung, alles in allem. Ihr müßt wissen, daß in solchem Büchlein auf zwanzig Seiten immer eine oder zwei, wie ich sie nenne, Tafelseiten kommen. Ich setze mich mittags mit einem Stück Brot, zu welchem an Festtagen Butter kömmt, nebst einem Glase Wasser oder dünnem Biere an den Tisch, speise vornehm und langsam, und während ich kaue, lese ich im ›Vergißmeinnicht‹, oder in ›Scherz und Ernst‹. Seine Tafelseiten werden mir nun zu delikaten Suppentafeln, denn mein Teller ist nicht mehr mit schlechtem Brot besetzt, meine Zähne malmen nicht mehr dieses magere Gebäck, nein, ich esse mit Clauren, und der Mann versteht, was gute Küche ist. Was da an Fasanen, Gänseleberpasteten, Trüffeln, an seltenen Fischen, an –«
»Genug«, fiel ich ihm ein, »und Eure Phantasie läßt Euch satt werden, aber könntet Ihr hiezu nicht das nächste beste Kochbuch nehmen? Ihr hättet zum mindesten mehr Abwechslung.«
»Ei, da ist noch ein großer Unterschied! Sehet, das verstehet Ihr nicht recht; in den Kochbüchern wird nur beschrieben wie etwas gekocht wird, aber ganz anders im ›Vergißmeinnicht‹; da kann man lesen, wie es schmeckt, Clauren ist nicht nur Mundkoch und Vorschneider, sondern er kaut auch jede Schüssel vor und erzählt, so schmeckte es; und wie natürlich ist es, wenn er oft beschreibt, wie diesem die Sauce über den Bart herabgeträufelt sei, oder wie jener vor Vergnügen über die Trüffelpastete die Augen geschlossen. Überdies hat man dabei den herrlichsten Flaschenkeller gleich bei der Hand, und wenn ich das Glas mit Dünnbier zum Munde führe, schiebt er mir immer im Geiste Trimadera, Bordeaux oder Champagner unter.«
So sprach der junge Mann und ging weiter, um auf sein großes Claurensches Traktament, der Verdauung wegen, zu promenieren.
Was ist Rumford gegen einen solchen Mann, sprach ich zu mir; jener bereitet aus alten Knochen kräftige Suppen für Arme und Kranke; ist aber hier nicht mehr als Rumford und andere? Speist und tränkt er nicht durch eine einzige Auflage des »Vergißmeinnicht« fünftausend Mann? Wenn nur die Phantasie des gemeinen Mannes etwas höher ginge, wie wohlfeil könnte man Spitäler, ja sogar Armeen verproviantieren? Der Spitalvater oder der resp. Lieutenant nähme das »Vergißmeinnicht« zur Hand, ließe seine Compagnie Hungernder antreten, ließe sie trockenes Kommißbrot speisen, und würde ihnen einige Tafelseiten aus Clauren vorlesen.
Doch von solchen Torheiten sollte man nicht im Scherz sprechen, sie verdienen es nicht, denn wahrer bitterer Ernst ist es, daß solche Niederträchtigkeit, solche Wirtshauspoesie, solche Dichtungen à la carte, wenn sie ungerügt jede Messe wiederkehren dürfen, wenn man den gebildeten Pöbel in seinem Wahn läßt, als wäre dies das Manna, so in der Wüste vom Himmel fällt, die Würde unserer Literatur vor uns selbst und dem Auslande, vor Mit-und Nachwelt schänden!
Doch, ich komme, meine verehrten Zuhörer, noch auf einen andern Punkt, den man weniger Ingredienz oder Zutat, sondern Sauce