Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke. Rainer Maria Rilke

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Gesammelte Gedichte von Rainer Maria Rilke - Rainer Maria  Rilke

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liebe meines Wesens Dunkelstunden,

       in welchen meine Sinne sich vertiefen;

       in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,

       mein täglich Leben schon gelebt gefunden

       und wie Legende weit und überwunden.

      Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum

       zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.

      Und manchmal bin ich wie der Baum,

       der, reif und rauschend, über einem Grabe

       den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe

       (um den sich seine warmen Wurzeln drängen)

       verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

      Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal

       in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, so

       ists, weil ich dich selten atmen höre

       und weiß: Du bist allein im Saal.

       Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,

       um deinem Tasten einen Trank zu reichen:

       Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.

       Ich bin ganz nah.

      Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,

       durch Zufall; denn es könnte sein:

       ein Rufen deines oder meines Munds –

       und sie bricht ein

       ganz ohne Lärm und Laut.

      Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

      Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.

       Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,

       mit welchem meine Tiefe dich erkennt,

       vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

      Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,

       sind ohne Heimat und von dir getrennt.

      Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.

       Wenn das Zufällige und Ungefähre

       verstummte und das nachbarliche Lachen,

       wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,

       mich nicht so sehr verhinderte am Wachen –:

      Dann könnte ich in einem tausendfachen

       Gedanken bis an deinen Rand dich denken

       und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),

       um dich an alles Leben zu verschenken

       wie einen Dank.

      Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.

       Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,

       das Gott und du und ich beschrieben hat

       und das sich hoch in fremden Händen dreht.

      Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,

       auf der noch Alles werden kann.

      Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite

       und sehn einander dunkel an.

      Ich lese es heraus aus deinem Wort,

       aus der Geschichte der Gebärden,

       mit welchen deine Hände um das Werden

       sich rundeten, begrenzend, warm und weise.

       Du sagtest leben laut und sterben leise

       und wiederholtest immer wieder: Sein.

       Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.

       Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise

       und ging ein Schrein

       und riß die Stimmen fort,

       die eben erst sich sammelten

       um dich zu sagen,

       um dich zu tragen

       alles Abgrunds Brücke –

      Und was sie seither stammelten,

       sind Stücke

       deines alten Namens.

      Der blasse Abelknabe spricht:

      Ich bin nicht. Der Bruder hat mir was getan,

       was meine Augen nicht sahn.

       Er hat mir das Licht verhängt.

       Er hat mein Gesicht verdrängt

       mit seinem Gesicht.

       Er ist jetzt allein.

       Ich denke, er muß noch sein.

       Denn ihm tut niemand, wie er mir getan.

       Es gingen alle meine Bahn,

       kommen alle vor seinen Zorn,

       gehen alle an ihm verloren.

      Ich glaube, mein großer Bruder wacht

       wie ein Gericht.

       An mich hat die Nacht gedacht;

       an ihn nicht.

      Du Dunkelheit, aus der ich stamme,

       ich liebe dich mehr als die Flamme,

       welche die Welt begrenzt,

       indem sie glänzt

       für irgend einen Kreis,

       aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

      Aber die Dunkelheit hält alles an sich:

       Gestalten und Flammen, Tiere und mich,

       wie sie’s errafft,

       Menschen und Mächte –

      Und es kann sein: eine große Kraft

       rührt sich in meiner Nachbarschaft.

      Ich glaube an Nächte.

      Ich

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