hätte, der nicht für den täglichen Bedarf einer großen Familie zu sorgen hat. Wäre es ihm nur wenigstens vergönnt gewesen, die begonnene freie Umgestaltung seines Tristan, mit der er sich bis zu seinem Tode trug, zu vollenden; wie glücklich wäre er mit diesem Lied auf den Lippen hinweggeschieden, von dem er selber sagt: Die großen Sänger starben dran. So gut sollte es ihm nicht werden. Nach seinem Heimgang übernahm der jüngere Dichterfreund Wilhelm Hertz die Fortführung. Aber unter der Arbeit änderte er seine Absicht und stellte mit Ausschluss der von meinem Vater hinterlassenen Bruchstücke eine völlig neue Übersetzung des mittelhochdeutschen Gedichtes her. Mit kundiger Gärtnerhand beschnitt er – fast ein wenig zu sehr, wenigstens ich für meinen Teil misse ungern den Sängerstreit – das geile Wachstum der Gottfriedschen Verse und schuf ein schönes, wohlabgewogenes Kunstwerk, nur dass an der Stelle, wo die Gottfriedsche Unterlage durch den Tod des alten Sängers abreißt, dem neuen die Fülle des Stoffes ausgeht und er dem Prachtbau nur noch aus älteren Resten einen kurzatmigen, erfindungsarmen Schluss wie ein Notdach aufgesetzt hat. Damit wurde das Gedicht Meister Gottfrieds der Allgemeinheit bequemer zugänglich gemacht, was übrigens auch die Absicht meines Vaters gewesen, aber zugleich etwas Einziges, Unersetzliches, der von Hermann Kurz gedichtete Schlussgesang, aus dem Lichte gedrängt. Wohl hatte Hertz gewünscht, das mächtige Finale seines Vorgängers in das eigene Werk zu übernehmen, aber die Hinterbliebenen konnten dem nicht zustimmen, denn die Einwilligung hätte notwendig auch zu der Erlaubnis eingreifender Änderungen führen müssen, weil sonst bei der Verschiedenheit der beiden Dichtertemperamente und auch der Altersstufe, auf der sie schufen, ein Einklang nicht herzustellen war; und solche Eingriffe in das Werk des Geschiedenen wären, besonders in der frischen Trauer, nicht tragbar gewesen. So musste sich auch an dieser Waise, die zuerst von Freundeshand zur Pflege übernommen worden war, das alte Missgeschick meines Vaters erfüllen und ihm sein Ruhmesteil gekürzt werden. Denn gerade an der tragischen Bruchstelle, wo das Gottfriedsche Wundergewebe den Händen seines sterbenden Meisters entsank, hatte sich in dem jugendlichen Hermann Kurz der eigene Dichtergenius losgerungen und aus dem gleichen Reichtum einen weitgeschwungenen episch-lyrischen Abschluss gedichtet, den sein Nachfolger Hertz hochpoetisch nennt und dem er die Ehre erwies, gar nicht mit ihm wetteifern zu wollen. Hier werden die lyrischen Abschweifungen, mit denen auch Gottfried je und je den epischen Fluss unterbricht, wie vom Schwung des Erdballs mit hinausgerissen: vom Einzelschicksal zum Allgemeinen strebend und wieder zurück zum Einzellos, erreichen sie nach Art der griechischen Chorgesänge eine Höhe und Weite, worin neben dem Sturm der menschlichen Leidenschaften die reinigende Kraft des Weltatems weht. Man kann ja, wenn man kritteln will, dagegen einwenden, dass die gehobene Sprache mit der immer objektiven Gottfrieds keine Stileinheit bildet und dass die vertiefteren Seelentöne, in denen alles Irren und Büßen einer unwiderstehlichen, mit dem irdischen Gesetz zerfallenen Liebe in tiefstem Wohllaut ausströmt, einem anderen Zeitalter angehören. Aber es geschieht der alten Dichtung nur, was immer ohne Schaden an den alten Domen geschah, dass liebende Hand sie aus einem neuen Zeitstil zu Ende baute. Den Vergleich zwischen dem Werke Gottfrieds und dem Dom von Straßburg hat mein Vater selbst schon am Schlusse des Gedichts gezogen:
Es gleicht dem Münster, so deucht es mir,
Mit seinen Massen und seiner Zier,
Es gleicht dem steingewordenen Strahl,
Dran Türme und Türmchen ohne Zahl
Mit leichten Steingeweben
In die Lüfte des Himmels streben.
Ein halbes Werk von großer Hand
Wie noch so manches im deutschen Land,
Das fromme Treue sich jetzt erlas
Zum Ausbau im verkürzten Maß.
Die Schwächen jugendlicher Genialität, womit dieses Frühwerk da und dort behaftet ist, hatte mein Vater noch ausmerzen wollen, die Überschwenglichkeiten dämpfen, Längen zusammenziehen, wie die kleinen, in seinem Handexemplar angebrachten Zeichen und Winke beweisen. Unfasslich ist es mir, dass von den vielen, immer wieder Längstbekanntes nachdruckenden Anthologien keine sich des brachliegenden Schatzes bemächtigt und die schönsten der lyrischen Stellen mit ihren langen, über die Heimlichkeiten der Menschenbrust hinfallenden Lichtern herausgebrochen hat, die in das Gestein des Epos wie Goldblicke eingesprengt sind, um sie, jede ein Gedicht für sich, der vaterländischen Dichtung zu retten. Ich denke an Stellen wie die aus tiefster Ehrfurcht für die Frau geborene: Das Weib ist Herz von Gottes Herzen – und jene andere, die mit dem Liebesleben des Mannes Abrechnung hält:
Und obs meinen Brüdern nicht behagt,
So bleibt es dennoch wahr gesagt:
Mannesherz ist ein ärmlich Ding –
Welch unverdorbenes junges Herz, wenn es der Macht der Poesie zugänglich ist, hätte für solche Töne stumpf bleiben können? Mit poetischen Wunderzeichen gleich diesen über dem Haupt hätte wohl auch die weibliche Jugend – denn sie ist es vor allem, die in der Dichtung den Wegweiser für das Leben sucht – nicht in das hetärische, um nicht zu sagen dirnenhafte, die Liebe in hundert Liebeleien verplempernde Treiben der Nachkriegsära fallen können, das aus dem herrschenden verderbten Literaturbetrieb unmittelbar seinen Ursprung herleitete. Kein zerschmetternderes Zeugnis für die entseelende Wirkung der jüngst verflossenen Literaturepoche als dieses Verhalten der Frauenwelt. Traurig ein Dichtergeschlecht, das sein Amt, die Jugend zu veredeln, abschwört. Traurig die Jugend, die es verlernt, sich in dem Stahlbad einer hohen und reinen Dichtung gegen die niedrigen Versuchungen zu kräftigen.
Aber Lebendes, das ins Dunkel gestoßen ist, will weiter zeugen, wenn auch auf namenlosen Wegen. Wer von den Millionen Hörern, die in allen Opernhäusern der Welt in Siegfrieds Liebestod geschwelgt haben, weiß etwas davon, dass diese ekstatischen Sehnsuchtslaute zuerst von einem Dichter namens Hermann Kurz im Schlussgesang seines Tristan angeschlagen worden sind und von da in das Tonwerk Wagners übergeströmt, nicht im Wort, versteht sich, sondern als erschütternder, die menschliche Natur in allen Tiefen aufwühlender Stimmungsgehalt. Soweit ich Dichtung kenne, weiß ich keine, in der