Kind werden konnte und dem unser Lärm ferngehalten werden musste. Immer gütig, aber schweigsam, in tiefem Selbstgespräch, wandelte er wie auf einem schmalen Seitenpfad neben dem Lebensweg der Seinigen her. Oft bin ich gefragt worden, was den feurigen Geist so früh verdüstert habe. Was kann den Genius trösten, muss ich zurückfragen, wenn er keinen Lebensraum hat, um seine Flügel zu entfalten? War meines Vaters ganze Jugend ein Ankämpfen gegen den Widerstand des Schicksals gewesen, so belud ihn jetzt eine sechsköpfige Familie mit noch ganz anderen Gewichten. Er war ja kein Schnell- und Vielschreiber, ihm mussten die Früchte seiner Mannesjahre langsam reifen. Aber die endlosen politischen, literarischen und wirtschaftlichen Nöte, die rings umgebende Enge – das Wort im natürlichen und im übertragenen Sinne genommen – und vor allem die immer neuen Enttäuschungen, die seine Zeit- und Heimatgenossen ihm bereiteten, unterwühlten mehr und mehr seine Schaffenskraft. Da gab es keinen erfrischenden Luftwechsel für die angegriffenen Kopfnerven und keinen geistbeflügelnden Austausch; auch meine von fünf Kindern umtoste Mutter konnte ihm in der eigenen Bedrängnis die fehlende Anregung nicht ersetzen. Ein untergeordneter, noch dazu durch stete Quengeleien eines abgünstigen Vorgesetzten vergällter Posten an der Universitätsbibliothek von Tübingen, wobei dem Dichter das Rechnungswesen und anderer geistloser Kram zufiel, das war der Port, der ihn nach den schweren Lebenskämpfen am Ende aufnahm. Wie Keller, wie Stifter versah er mit treuem Eifer das widerwillig getragene Amt, das ihm Zeit und Stimmung zum Hervorbringen raubte. Und wenn die Eingebung sich noch einmal regen wollte, so hinderte ein beginnendes Kopfleiden, die Folge früherer Überanstrengung, ihr schöpferisches Ausströmen. »Gib, das Karrwerk meiner Tage, Hohes Glück, dass ichs ertrage«, schrieb er damals in einem Ausbruch von Galgenhumor an Heyse, den Freund seiner Spätzeit. Bevor er so die Schwingen faltete, hatte der Unverstandene, Niedergeschwiegene, durch die Masse der Kleineren von der literarischen Bühne Abgedrängte, noch einmal versucht zur Mitwelt zu sprechen, als er ihr das starke Lied vom »Fremdling«, dem im Rabenstaat erzogenen Adlerjungen sang, das Schicksalslied des in der Enge geborenen Genius und sein eigenes. Aber nur blödes Schweigen hatte ihm auch da geantwortet, wenn nicht abfällige Kritik, wie sie ihm zum bitteren Schmerz meiner Mutter sein Jugendfreund Kausler zu hören gab, der Ruwald aus dem »Wirtshaus gegenüber«, der unterdessen auf seiner Landpfarrei ein verstimmter Einsiedler geworden war. Einzig aus der Seele des jugendlichen, vom Glück hochgetragenen Paul Heyse war ein freudiger und begeisterter Widerhall gekommen. Wie den enttäuschten, schon vom Frost der Entsagung berührten Goethe jener erste Brief Schillers, so erweckend mag meinen Vater damals der Anruf Heyses getroffen haben. Am 25. Dezember, gleich nach dem Empfang des Gedichtes, schrieb er aus Meran: »Die Blätter kamen uns in der Münchner Weihnachtskiste zu, und als alle Freuden durchgenossen … waren, las ich das Gedicht in der heiligen Weihnachtsstille mit einer Wonne, die sich von Seite zu Seite steigerte und am Schluss in eine wundersame süße und stürmische Bewegung aufging, dass ich lange hernach noch wach im Bette lag und dies herrliche Gedicht mit starker und reiner Melodie in mir nachklingen fühlte. Ich weiß die Zeit nicht, dass mich ein dichterisches Werk so ins Innerste gerührt und entzückt hätte … Mit welch körniger Feinheit, wie straff und elastisch zugleich, wie eigen und einzig Sie ihn (den Vers) zu zügeln wissen, alles im glücklichsten Maß, jenes reizende Spiel der Schalkheit, das unvermerkt in leisen Schwingungen sich ins Grandiose und Erschütternde erhebt und droben in der hellen und gewaltigen Klarheit ausruht – ich kenne nichts Ähnliches.« Worte wie diese hatte der Empfänger in seinem ganzen Leben auch von den Getreuesten unter seinen Landsleuten nie vernommen. Es muss ja mancher ebenso gefühlt haben, aber dem Schwaben versagt, um sein Gefühl zu äußern, allzuleicht der Anlauf. Aus solcher Erfahrung dürfte wohl das ergreifende Jugendgedicht meines Vaters »Die Rede« geboren sein:
Es steht in alten Sagen,
Dass strengen Zauberbann
Ein Wort, ein herzlich Fragen
Allmächtig brechen kann.
So wird im Lied gescholten
Der Held vom heiligen Gral,
Der als sein Wort gegolten
Nicht hob des Oheims Qual.
Siehst du, dass einer trauert,
So geh und red’ ihn an,
Kein Herz ist so vermauert,
Dass nichts ihm nahen kann.
Der Mensch hat nichts so eigen
Wie Red’ aus treuer Brust,
Dem Steine lass das Schweigen,
Es bringt ihm wenig Lust.
Der erlösende Anruf, der wieder und wieder ausgebliebene, endlich war er von einem Norddeutschen, einem Berliner, gekommen. Diese Dichterfreundschaft sollte denn auch dem Einsamen zum Trost und stärksten Inhalt seiner späten Jahre werden. Das feurige Geben und Nehmen einer überreichen Gedankenwelt musste ihm bis zum Ende die fehlende Gemeinde ersetzen, während Heyses leichtschreitende, nie rastende Muse an dem älteren wuchtigeren Genossen den unermüdlichen, in jede Einzelheit liebevoll eingehenden Berater fand. Denn alle die rasch nacheinander entstehenden Werke Heyses wurden zuerst als Manuskript oder als Fahnendruck in Tübingen vorgelegt und gründlich durchgeprüft. Meine Mutter, die bei dem Freundespaar, ich weiß nicht warum, die Pythia hieß, war im Bunde die stürmisch liebende und bewundernde Dritte. Der Überschwang ihrer Dankbarkeit – denn bei ihr wurde jedes Gefühl zum Überschwang – färbte ihr den schönen und liebenswürdigen jungen Freund in einen Heiland um, dem sie wie ein Frommer jedes Heil zu danken glaubte und ihm mit unermüdlicher Inbrunst Altarkerzen entzündete. Mein Vater, der sie mit den Übertreibungen ihrer Schwärmerei zu necken pflegte, stand selber ebenso unter dem Zauber. Er, der seit seinen Mannesjahren mit jedem Gegenstand ringen musste wie Jakob mit dem Engel, um ihm sein Tiefstes zu entreißen, sah staunend und entzückt, wie der Dichterjüngling spielend von einem Stoff in den andern glitt, um ihn mit meisterlicher Leichtigkeit, wenn nicht immer für die künftigen Tage, so doch gewiss für das Wohlgefallen auch der Besten seiner Zeit, zu formen. Wenn einmal der Heyse-Kurz-Briefwechsel ans Licht tritt, dessen Benutzung