Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Ich war ein viel zu fürwitziges Kind, als dass ich nicht gesucht hätte, dem was mir vorenthalten wurde, auf anderem Wege nachzugehen. Neun- oder zehnjährig holte ich mir aus Vaters Bücherschrank heimlich die Lutherbibel und verbarg sie in meinem Bett, um darin zu lesen, so oft ich mich unbeobachtet sah. Im Alten Testament hielt ich mich nicht auf, seine harten und oft recht anfechtbaren Gestalten fanden neben der leuchtenden griechischen Mythe keinen Platz; es war wohl der Schutzgeist des unbewachten Kindes, der es so schnell an all den Bedenklichkeiten vorüberführte. Auf der Frühlingswiese des Neuen erging ich mich lieber und wartete, ob der himmlische Gärtner nicht auch zu mir komme. Aber ich hätte wie Semele gewollt, dass der Gott sich mir in seiner Göttlichkeit enthülle, dass er strahlend einhertrete und wie ein Bruder bei meinen anderen geliebten Göttergestalten stehe; und das geschah nicht. Mein Kinderherz war wohl willig, seine Lehre auch so aufzunehmen, allein es wusste nicht wohin damit. Das stete Reden in Gleichnissen befremdete mich und ließ meine Hände leer. Gleichwohl fuhr ich fort, mich als eine angehende Gläubige zu betrachten und nahm mir vor, auf diesem Wege zu beharren. Dass ich es so ganz verstohlen trieb wie eine heimliche Sünde, beklemmte mich zwar einigermaßen, bis ich auf die Mahnung stieß, der Fromme solle seine Frömmigkeit nicht zur Schau tragen, sondern nur ungesehen in seinem Kämmerlein beten. Obgleich dies auf meinen Fall nicht passen konnte, was mir auch leise bewusst war, beschloss ich doch den Wortlaut für gut zu nehmen und mich dabei zu beruhigen. Da befand ich mich eines Tages in einem Kreis von freireligiös erzogenen Kindern, die Gehörtes missverstehend sich über den Aberglauben der christlichen Lehre lustig machten. Gleich fasste mich ein kleines Rauschteufelchen, dass ich einstimmte und übermütig mit den Wölfen heulen musste. Als ich mich wieder besann, erkannte ich mich mit Schrecken als eine Verworfene, mein Werben um den Gottmenschen fortan zwecklos und mein Heil für immer verwirkt. Nun wagte ich den Rückweg in die Gefilde des Glaubens, die ich mir selbst verschlossen hatte, gar nicht mehr zu suchen, und nahm mir nur vor, künftig ohne das alles in Tun und Reden ein besserer Mensch zu werden. Vielleicht gab es noch andere Wege, worauf einen das Göttliche finden konnte. Hätte ich in der Passionsgeschichte damals weitergelesen und wäre bis zu Petrus und dem Hahnenkraht gekommen, so würde ich wahrscheinlich aus dem bösen Beispiel des Apostelfürsten mildernde Umstände für mich selber abgeleitet haben. So aber blieb mir ein bitterböser, mich tief beschämender Eindruck haften wie immer, wenn ich mich auf irgendeinem Punkt nicht in Einklang mit mir selber fühlte, und ich nahm jahrelang das Buch der Bücher nicht mehr in die Hand, als ob ich es zum Schauplatz eines Verbrechens gemacht hätte. Aber war es wirklich nur Mangel an Bekennermut? muss ich mich nachträglich fragen. War es nicht auch zum guten Teil jene Scham des Herzens, die mich so oft abhielt, allzu werte Namen auszusprechen und mich lieber andere, unwichtigere vorschieben ließ, nur um nichts mir Heiliges zu entweihen? – Der Knabe Dante, der um die Neugier von seinem Gefühl für Beatrice abzulenken, einer Anderen, Gleichgültigen huldigte, fand bei mir ein offenes Verständnis.
Wenn ich es meiner Mutter zuweilen im stillen verargt habe, dass sie auf diesem Punkt wie auf manchem anderen im voraus über mein unmündiges Haupt hinweg für mich entschied, statt mich als Kind das Glück der Glaubensgemeinschaft mit den Altersgenossen kosten zu lassen und hernach meinem gereiften Denken anheimzustellen, was ich davon als wahr annehmen wollte und was nicht, so sehe ich jetzt, nachdem ich mich besser kennengelernt habe, dass sie mich mit meiner erregbaren Fantasie und dem empfindlichen Gewissen vielleicht vor religiösen Wahnvorstellungen oder dauernder Verdüsterung bewahrt hat. Mir will scheinen, dass nur Seelen, die durch den religiösen Alltag abgestumpft sind, an dieser Gefahr sorglos vorübergehen und sich an ihren Konfirmationsgeschenken erfreuen. Christus sprach es aus, er habe das Schwert gebracht und nicht den Frieden, und wahrlich dieses Schwert durchschneidet seit seinem Kommen das Herz der Menschheit. Luther soll – ich weiß nicht mehr wo – gesagt haben, es gebe Seelen, die gar nicht aus dem Fegefeuer herauswollen – ein qualvolles Wort, in dem alle Schauer des Gewissens zittern! Aber diese Schauer sind nur für die Guten, die großen Verbrecher haben ein besseres Ruhekissen.
Keine Religion hat es ihren Bekennern so schwer gemacht wie das Christentum, keine hat ihre Herzen so mit Schwertern zerfleischt. Wie sollte das wehrlose Kinderherz die Nacht in Gethsemane ertragen, die furchtbarste, die je über die Erde gegangen ist, wo dem Gottmenschen der Angstschweiß aus allen Poren bricht, während die Jünger, brave Leute, deren grobirdische Natur dem Schlaf nicht wehren kann, ihn seiner Not allein überlassen. Ich musste von Jugend auf jeden Verbrecher mit meinen Gedanken zum Richtplatz begleiten – ich tat es bewusst, weil es mir schmählich schien, der eigenen Ruhe zuliebe von dem Menschenbruder, auch dem verworfensten, in der letzten Angst die Augen wegzuwenden. Wie nun diesen so zu wissen! Und der unausdenkbare Augenblick, wo der irdische Zwilling, der dem Göttlichen zur Wohnstatt gedient hat, jetzt in der Marter sein Entweichen fühlt und ihm nachschreit: Warum hast du mich verlassen?
O wie konnte er ihn verlassen? Warum hat er ihm das getan, dass er ihn nicht bis zum Letzten stützte? Oft genug mag sich das in Geschichte und Einzelgeschick wiederholen, dass der stürmende Geist einen Sterblichen ergreift und ihn sich zum Zeugnis an den Abgrund reißt, wo er