Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Der dritte Bruder Erwin, bildhübsch und liebenswürdig, war ein lustiger Junge, der allem Unangenehmen aus dem Wege und dem Angenehmen nachging; er stritt niemals mit den Geschwistern, kam aber als Helfer auch nicht in Betracht. Sein heiteres Künstlerblut suchte die Sonnenseite des Lebens und entzog sich den häuslichen Stürmen, die leicht ins Gefährliche ausarteten und mir die Jugend tief verdüsterten. Eigen hat es das Schicksal gefügt, dass gerade dieser kleine Genüßling, von dem alle glaubten, dass er auf leichten Füßen durch ein sonnenfrohes Dasein gehen würde, in schweren Lebenskämpfen zu einem Charakter von eherner Willensstärke und Selbstverleugnung geschmiedet werden sollte.
Der jüngste war unser vielgeliebter Balde, 1860 im Monat der Einnahme von Palermo geboren und deshalb von der Mutter, die eine feurige Garibaldischwärmerin war, mit dem Namen ihres Lieblingshelden benannt, was Vater zugab, weil Garibald (Speerkühn) ein langobardischer Name sei. Im Gebrauch aber wurde Garibaldi in Balde verkürzt, und ich brachte seiner langen Kindlichkeit wegen noch den zärtlichen Necknamen »Bemper« für ihn auf, den er sich halb lachend, halb schmollend eine Zeit lang gefallen ließ und mit dem er häufig im Briefwechsel der Familie erscheint.
Er war eine rührend holde Menschenblüte von edelster Mischung, aber durch einen Herzfehler, dessen Ursprung auf eine akute Erkrankung im fünften Jahre zurückging, zu kurzem und verkümmertem Leben bestimmt. Für ihn gab es weder regelrechten Schulbesuch noch irgendeine Jugendfreude. Er hatte nichts als seinen inneren Reichtum und die unermüdliche Hingabe seiner Mutter, die alle seine Leidensnächte mit ihm verbrachte, am Tage mit ihm las und ihm half sich durch Selbststudium zu bilden. Dieses langsame aber unausweichliche Hinsterben, das die Mutter nach sich reißen zu müssen schien, nahm auch meiner Jugend das Sicherheitsgefühl und ließ mich immer auf den schweren Schlag gefasst sein. Das Siechtum des allgeliebten Jüngsten wurde der Hauptanstoß zu der Übersiedlung der ganzen Familie nach Italien, weil man von dem südlichen Klima zwar keine Heilung, aber einen Stillstand des Leidens erhoffte.
Inmitten dieser Familie stand als das A und O, worin alles beginnt und endet, das unbegreiflichste aller Frauenwesen, von dem man nie aufhören könnte zu erzählen, ohne je damit fertig zu werden, meine Mutter. Auf allen meinen Erinnerungsblättern ist von ihr die Rede, abgesehen von dem ihr eigens gewidmeten kleinen Büchlein mit den Proben ihrer Gedichte. Dennoch lässt sich kein Stück Vergangenheit zurückrufen, ohne dass sie wiederum dabei zugegen wäre, mit solcher Schicksalsmacht hat sie das Leben aller von ihr Geborenen durchwaltet. Sie hätte können – nicht nach dem äußeren Auftreten, das so anspruchslos wie möglich war, aber nach der von ihr ausgehenden Wirkung und nach der grandiosen Einfachheit, womit ihr inneres Saitenspiel gebaut war – zu jenen urzeitlichen Frauen gehören, von denen Bachofen spricht. Auch gegenüber dieser einzigen Gestalt bin ich jetzt, wo ich den Spuren meines eigenen Schicksals nachgehen soll, in der Lage, sie auf der Bühne meines Lebens als Gegenspielerin, die bedeutsamste, geliebteste, edelste, aber auch in manchem Sinn die verhängnisvollste aufführen zu müssen. Aber um das zu dürfen, muss ich noch einmal ihr Gesamtbild erscheinen lassen auf die Gefahr hin, dass man mir Wiederholung vorwerfe, denn nur von diesem her empfangen ihre einzelnen Wesenszüge die richtige Beleuchtung.
Ich habe sie geschildert, wie sie schon als kleines Kind sich gegen die Ungleichheit der Stände und des Besitzes auflehnte und ihre eigene bevorrechtete Stellung als ein Unrecht ansah, das sie gutzumachen suchte, indem sie die Köstlichkeiten des väterlichen Kellers und der mütterlichen Speisekammer ausräumte, um sie den Bettlern zu schenken. Ich habe sie weiterhin geschildert, wie sie als junges Mädchen im Jahre 1848 der Sache des Volks ihr Vermögen opferte und wie sie später mit derselben flammenden Begeisterung ihrem Dichter die Hand reichte, um mit ihm durch ein Leben härtester Entbehrungen zu gehen, ohne jemals den Mut zu verlieren oder an ihren Idealen irre zu werden. Ihr Persönlichstes lässt sich nicht fasslicher umreißen, als ich es in meinem »Jugendland« und in dem Büchlein »Meine Mutter« getan habe. Es sei mir also gestattet, einiges wenige davon hier im Auszug anzuführen.
»Sie wiederzugeben ganz so wie sie war ist ein Wagnis. Kein Bild ist leichter zu verzeichnen als das ihrige. So ausgeprägt sind ihre Züge, so urpersönlich – ein einziger zu stark gezogener Strich, eine vergröberte Linie, und das Edelste und Seltenste was es gab kann zum Zerrbild werden. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeichnet, muss ganz leicht und sicher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auffassen soll. Wer gewohnt ist, in Schablonen zu denken, findet für das nur einmal Vorhandene keinen Platz in seiner Vorstellung.« … »Die unbegreiflichsten Gegensätze waren in diesem Menschenbild zu einem einfachen und bruchlosen Ganzen zusammengeschweißt, dass man sich in aller Welt vergeblich nach einer ähnlichen Erscheinung umsehen würde. Von beiden Seiten blaublütig, mit allen Vorteilen einer verfeinerten Erziehung ausgestattet und doch so ursprünglich in dunkler Triebhaftigkeit. Diese Triebhaftigkeit aber gänzlich abgewandt vom Ich, was doch der Natur des Trieblebens zu widersprechen scheint! Was andere sich als sittlichen Sieg abringen müssen, der selbstlose Entschluss, das war bei ihr das Angeborene und kam jederzeit als Naturgewalt aus ihrem Inneren. Wenn ich mich umsehe, wem ich sie vergleichen könnte, so finde ich nur eine Gestalt, die ihr ähnelt, den Poverello