Gesammelte Werke. Isolde Kurz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Isolde Kurz страница 144
Wenn mein Vater gelegentlich halb scherzend äußerte, er halte es mit dem Mutterrecht der Urvölker, weil der Frau, die allen Schmerz und alle Last der Mutterschaft trage, auch das erste Recht an die Kinder zustehe, da war er sich schwerlich bewusst, dass es in der Tat ein Wiederaufleben jener urzeitlichen Zustände war, das in seinem Hause herrschte und auch über das künftige Geschick seiner Kinder entschied. Seine Gattin diente ihm mit Begeisterung und verehrte jedes seiner Worte als Orakel, aber ihre Kinder waren ihr Eigentum, das sie allein verwaltete, ihm nur so viel Mitverwaltung lassend, als es ihn bei seiner Arbeit nicht beschwerte. Er konnte auch nichts tun als abdanken, weil seine von den langen politischen, literarischen und wirtschaftlichen Kämpfen zerriebenen Nerven der Doppelaufgabe nicht mehr gewachsen waren. Auch war er ja sicher, dass ihr Einfluss der edelste war und aus den höchsten Gesichtspunkten geübt. Nicht, wie es sonst Frauenart ist, mit der Richtung auf den äußeren Erfolg, sondern einzig auf die höheren Werte. Sie erschwerte sogar ihren Kindern unbedenklich das ohnehin so schwierige bürgerliche Fortkommen, indem sie sie zur äußersten Unbeugsamkeit in allen grundsätzlichen Fragen erzog und sie damit von Anfang an mit der Welt, wie sie war, in Gegensatz brachte. Auf drei höchst eigenartig abgeprägte Söhne (ich spreche nicht von dem Jüngsten, Leidenden und von ihr Betreuten, bei dem es sich von selbst verstand) übertrug sie ihr Weltbild, auch wo es sich anders als beim Vater schattierte, durch eine zum Teil vorgeburtliche Beeinflussung. Noch bis ins dritte Glied dauerte unter gänzlich veränderten Lebensbedingungen in gewissem Sinne ihr Walten: sie gab oder ergänzte den Enkeln die Namen und wirkte auf ihre Erziehung soweit ein, dass sie auf ihren späteren, ganz anders verlaufenden Bahnen immer noch das Vorbild der Nonna (Großmutter), wenn auch nicht mehr wegweisend, so doch als stille Mahnung über sich fühlten. Dass die kleinbäuerlich so anspruchslose Frau nach dem Tode des Vaters und unserem Auszug aus dem Vaterland den ganzen Clan wieder so fest zusammenfasste, dass keines sich weiter als auf die Entfernung einer Tagereise von ihr niederließ, erschien allen als das von selbst Gegebene. Wie es auch gar nicht anders denkbar war, als dass ihr Ältester, der daheim die seinen Gaben angemessene Stellung nicht finden konnte, Florenz als ärztlichen Wirkungskreis wählte, damit seine Mutter mit dem leidenden Jüngsten ihm in das milde Klima folgen konnte.
Nichts mache so unentbehrlich wie die Liebe, sagt Werter, und dies war auch das Geheimnis der alles überwiegenden mütterlichen Macht in unserem Hause: die Liebe, die Nestwärme, mit der sie alle von ihr Geborenen umfangen hielt und die sie auch weiterhin auf alles Atmende ausdehnte, dass es bei ihr unterschlüpfen und sich vorwärmen konnte gegen die kalten Lüfte des Lebens. Am engsten – oft schmerzhaft enge – hielt sie die Tochter an sich gebunden, obgleich gerade diese, in deren Innerem sich, gleichfalls angeborenerweise, die väterlichen Ströme mit den mütterlichen kreuzten, ihr am häufigsten in grundsätzlichen Fragen widerstrebte. Verstandesmäßig fußte sie auf den Lehrsätzen der französischen Revolution, deren Formelhaftigkeit ihr nicht aufgehen konnte, weil sie sie mit den Glutströmen ihres Herzens erfüllte und bei der Ausübung in lauter schützende und nährende Liebe verwandelte. Wer kann Liebe, die zur Tat wird, widerlegen? Wenn sie in Einzelheiten irrte, das Ganze ihres Wesens war Liebe, die niemals Irrtum ist. Und vor dieser Urgewalt gab es kein Entrinnen. Aber alle Liebe ist grausam, selbst die heiligste, die Mutterliebe. Um mehr und immer mehr geliebt zu sein, lässt sie sich auch die Pein des andern Teils nicht reuen. Bei mir ging diese Pein auf die früheste Kindheit zurück. Bei einem Besuch in Stuttgart sah ich einmal vom Fenster aus eine Schar kleiner graugekleideter Mädchen, die paarweise von einer in dasselbe Grau gekleideten Schwester durch die Straßen geführt wurden. Es seien die Waisenkinder, sagte Mama und erzählte mir von dem trostlosen Schicksal solcher armen Geschöpfe, die keine Eltern mehr hätten und ohne Liebe und Freude unter der Obhut fremder Personen heranwüchsen. Sie wusste nicht, was sie tat, sie ahnte nicht, die liebendste aller Mütter, dass sich mit einem Schlag die Welt für mich verwandelte und ich eben schon selber graugekleidet und im Herzen frierend als Waise in der grauen Elendswolke mit dahinzog.
Von jenem Tage ab stand mein Leben unter dem Schatten des Todes.