Gesammelte Werke. Isolde Kurz

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Gesammelte Werke - Isolde Kurz Gesammelte Werke bei Null Papier

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zu über­wa­chen. Der ers­te neue An­fall trat auf, als sie es durch­ge­setzt hat­te, mit Freun­den in de­ren Wa­gen den Viel­ge­lieb­ten auf Tre­spia­no zu be­su­chen, wo­bei es auf der Heim­fahrt ge­ra­de an der steils­ten Stel­le zum Zu­sam­men­stoß mit ei­nem an­de­ren Fuhr­werk kam. Sie trug zwar kei­ne Ver­let­zung da­von, denn man fuhr noch nicht mit Ben­zin, wohl aber eine star­ke Er­schüt­te­rung, so­dass sie sich für Tage le­gen muss­te, für sie eine har­te Zu­mu­tung. Von da an konn­te ihre flam­men­de See­le nicht mehr ver­heim­li­chen, dass es eine Achtund­sieb­zig­jäh­ri­ge war, die der Tod ih­res Lieb­lings ins Herz ge­trof­fen hat­te! Sie war nicht krank, aber sie krän­kel­te, ein Rad war ge­bro­chen in dem so wun­der­ba­ren Ge­fü­ge, wenn es auch wei­ter ar­bei­te­te. Auch das Zu­sam­men­le­ben wur­de schwie­ri­ger: Ge­sich­ter, die sie nicht ger­ne sah, durf­ten nicht mehr ins Haus, gleich­viel, in wel­che Lage ich da­durch ge­riet. Für sie war es das Recht des Un­glücks, auch Un­ge­rech­tes zu for­dern, und ich muss­te will­fah­ren, um schlimms­te Kri­sen zu ver­mei­den –, nicht weil sie mei­ne Mut­ter, son­dern weil sie mein Kind war, mein schwer ge­trof­fe­nes Kind, das, wie ich mir nicht ver­heh­len konn­te, jetzt sei­ne letz­ten Kräf­te ver­brauch­te. Den Ver­brauch ver­lang­sa­men, scho­nen und wie­der scho­nen war das ein­zi­ge, was zu tun blieb. Aber nur die Som­mer in For­te ta­ten ihr noch wohl; in dem ihr öde ge­wor­de­nen Flo­renz hat­te sie kei­ne Ruhe mehr. Bald zog sie’s nach Ve­ne­dig, wo Al­fred im­mer sehn­suchts­vol­ler die Arme nach sei­ner Mut­ter aus­streck­te, bald nach Mün­chen zu Er­win. Die Wahl fiel auf Mün­chen, wo­hin ich sie in Beglei­tung von Hil­de­brands vor­aus­rei­sen ließ, um sel­ber die Woh­nung auf­zuräu­men und nach­zu­fol­gen. Ich such­te mir eine Pen­si­on in ih­rer Nähe und hoff­te wie­der ein­mal auf­zuat­men, aber nun quäl­te sie eine ah­nen­de Sor­ge um Al­fred. Ich war der Rei­se nach Ve­ne­dig ent­ge­gen ge­we­sen, weil ich wuss­te, dass der sie am tiefs­ten von al­len ih­ren Söh­nen lie­ben­de am we­nigs­ten im­stan­de war, ih­rem See­len­frie­den Rech­nung zu tra­gen. Denn weil er in sei­ner ve­ne­zia­ni­schen Ehe kei­ne Spur von dem häus­li­chen Um­sorgt­sein hat­te fin­den kön­nen, das deut­schen Män­nern ein Be­dürf­nis ist, und es einen geis­ti­gen Um­gang dort für ihn nicht gab, war er in eine Le­bens­wei­se ver­fal­len, die sei­ne Ge­sund­heit aufs schwers­te schä­dig­te und der er bei der feu­rigs­ten Lie­be zu den Sei­nen nicht mehr zu ent­sa­gen ver­moch­te. Da wur­de mit ei­nem Male der Drang zu die­sem Sohn in dem Mut­ter­her­zen un­wi­der­steh­lich, dass sie so­gar den ganz fan­tas­ti­schen Ent­schluss fass­te, al­lein zu ihm zu fah­ren; so blieb mir nichts üb­rig als nach ei­ner Rei­se­ge­sell­schaft für sie zu su­chen. Aber ehe sich Ge­le­gen­heit fand, rief ein Te­le­gramm der An­ge­hö­ri­gen Er­win zu dem jäh­lings Schwe­rer­krank­ten nach Ve­ne­dig. Er fuhr au­gen­blick­lich und kam ge­ra­de recht, ihm die Au­gen zu­zu­drücken, – der zwei­te tief­ge­lieb­te Bru­der, den er in we­ni­ger als zehn Mo­na­ten ster­ben se­hen muss­te. Hat­te der ein­glied­ri­ge aber zähe Ed­gar vier­zehn Tage mit dem Tode ge­run­gen, so fiel Al­freds strot­zen­de Kraft­na­tur auf den ers­ten Streich. Er hat­te kei­nen Wi­der­stand mehr auf­zu­bie­ten, denn bei dem Ver­lus­te die­ses Bru­ders war das Herz in ihm ge­bro­chen. Er hat­te in der Tat mehr ver­lo­ren als alle an­dern. Seit er er­wach­sen war, hat­te er in dem äl­te­ren Bru­der, der ihm in der Wis­sen­schaft wie im Le­ben vor­an­leuch­te­te, sei­nen vä­ter­li­chen Vor­mund und Be­ra­ter ge­se­hen, wie er in der Mut­ter nach wie vor die Füh­re­rin sah, der er zwar oft aber im­mer mit schlech­tem Ge­wis­sen un­ge­hor­sam war. Bei den bei­den je und je ein paar se­li­ge hei­mat­li­che Tage in Flo­renz in der Via del­le Por­te nuo­ve zu ver­brin­gen, das war für ihn der Traum des gan­zen Jah­res. Nun war die­ses gan­ze Flo­renz für ihn ein­ge­stürzt; er saß an Leib und See­le frie­rend in sei­ner letz­ten schö­nen Woh­nung, dem Palaz­zo Fa­lier am Canal Gran­de, und ver­brach­te sei­ne Näch­te ein­sam bei den großen Bü­cher­schät­zen, die er von sei­nem Freund, dem Pas­tor Elze in Ve­ne­dig, ge­erbt hat­te, und beim Wein, der ein trös­ten­des Gift für ihn war.

      Als ich mit der To­des­bot­schaft zu der Mut­ter trat, wuss­te sie gleich al­les und saß auch dies­mal wie eine Nio­be, stumm und ohne Trä­nen. Selt­sam war es, dass mich meh­re­re Näch­te zu­vor eine Ah­nung des Kom­men­den in sym­bo­li­scher Wei­se ge­streift hat­te. Es träum­te mir, ich säße in Flo­renz zwi­schen den bei­den äl­te­ren Brü­dern an Ed­gars Schreib­tisch, und die­ser in sei­ner ge­wohn­ten ent­schlos­se­nen Hal­tung setz­te dem Jün­ge­ren, Un­schlüs­si­gen eine Sa­che, die ihn stark zu be­we­gen schi­en, mit Nach­druck aus­ein­an­der, ir­gend et­was Me­di­zi­ni­sches, ein Un­ter­neh­men, zu dem er Al­fred zu über­re­den such­te. Ich hör­te nicht zu, ganz be­fan­gen von der Ver­wun­de­rung, dass die­ser, den ich doch im Sar­ge ge­se­hen hat­te, hier wie­der le­ben­dig vor mir saß. Ich be­nütz­te den ers­ten Au­gen­blick, um ihn mit ge­hemm­ter Zun­ge müh­sam zu fra­gen, wie es ihm jetzt gehe. Er sah mich nach­sich­tig lä­chelnd mit sei­nen durch­drin­gen­den dun­kelblau­en Au­gen an, als ob ich et­was ganz Ver­kehr­tes ge­fragt hät­te, nahm, ohne zu ant­wor­ten, mit den lan­gen spit­zi­gen Fin­gern, die den mei­ni­gen ähn­lich wa­ren, ein Blätt­chen Sei­den­pa­pier vom Tisch, tupf­te mir da­mit vor­sich­tig wie ein Au­gen­arzt die vor­drin­gen­den Trä­nen weg und wand­te sich wie­der – er selbst in je­der Be­we­gung – an Al­fred, der dem Zwang der Über­re­dung nicht län­ger wi­der­ste­hen konn­te und sich noch zö­gernd er­hob, um ihm aus der Tür zu fol­gen.

      Auch dies­mal griff ich zu dem schon be­währ­ten Mit­tel, den ers­ten Mut­ter­schmerz zu lin­dern, in­dem ich das Le­bens­bild auch die­ses Ge­schie­de­nen schrieb und es zu­erst in der »All­ge­mei­nen Zei­tung«, dann in mei­nen »Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen« ne­ben dem sei­nes Bru­ders ver­öf­fent­lich­te. Dies­mal hat­te ich nicht einen Kämp­fer und Hel­den, nicht einen For­scher und Dich­ter zu schil­dern, nur ein gol­de­nes, an Lie­be und Güte un­er­schöpf­li­ches Herz, einen auf­op­fe­rungs­vol­len Arzt, einen Freund und Schüt­zer al­ler Krea­tur und ein freu­di­ges, sin­nen­fro­hes, aber doch im­mer im Geis­ti­gen ver­wur­zel­tes Tem­pe­ra­ment voll strah­len­der Lau­ne. Die­ses gol­de­ne Herz be­saß rings­um in der Welt Freun­de, de­nen er in sei­nem Ve­ne­dig Gu­tes ge­tan, – bei sei­ner großen Zu­gäng­lich­keit be­saß er de­ren so­gar mehr als sein weit be­deu­ten­de­rer äl­te­rer Bru­der. Sie alle er­reich­te der Nach­ruf in der »All­ge­mei­nen Zei­tung« und er­weck­te die dank­ba­re Erin­ne­rung, dass sie sich mit teil­neh­men­den Brie­fen an die Mut­ter wand­ten und da­mit die ers­te durch den Aus­fall der Soh­nes­brie­fe ent­stan­de­ne Lee­re deck­ten. Aber der Riss ins Le­ben war zu groß ge­wor­den, als dass eine Fort­set­zung des bis­he­ri­gen Zu­stands mög­lich ge­we­sen wäre. Schon der ver­gan­ge­ne Win­ter hat­te ge­zeigt, dass ein trau­li­ches Ei­gen­heim als Nest der Ge­bor­gen­heit und Ar­beits­s­til­le mit dem Müt­ter­lein zu­sam­men sich auch jetzt nicht durch­füh­ren ließ. Ihr be­gin­nen­des Siech­tum, das doch das star­ke Tem­pe­ra­ment nicht dämp­fen konn­te, hin­der­te den Gleich­lauf der Tage. Und nun fehl­te nicht nur Ed­gar, es war auch kein Al­fred mehr da, sie we­nigs­tens aus der Fer­ne zu um­sor­gen. Zwar die strah­len­den Som­mer in For­te konn­te ich ihr und mir noch er­hal­ten. Aber die schö­ne Woh­nung in der Via de’ Bar­di muss­te schließ­lich auf­ge­ge­ben wer­den, nach­dem sie zwei Jah­re lang so gut wie leer ge­stan­den hat­te. Nur der Ein­tritt in eine fest­ge­füg­te, von an­de­rer Hand ge­lei­te­te Haus­ord­nung konn­te die Not wen­den und mir die Kraft zur

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