Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust
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»Vielleicht werde ich mit meinem Sohn nach Balbec gehen, ich weiß noch nicht ...»
»Ah! Balbec ist angenehm, ich habe dort mehrere Sommer verbracht. Man fängt jetzt an ganz allerliebste Villen da zu bauen, ich glaube, der Ort wird Ihnen gefallen. Aber darf ich fragen, wieso Ihre Wahl gerade auf Balbec gefallen ist?«
»Mein Sohn ist sehr darauf aus, gewisse Kirchen der Gegend zu sehen, besonders die von Balbec selbst. Für seine Gesundheit fürchtete ich allerdings ein wenig die Anstrengungen der Reise und besonders des Aufenthalts. Aber, wie ich höre, hat Balbec jetzt ein ausgezeichnetes Hotel, das ihm ermöglichen wird, sich zu pflegen, wie es sein Zustand erfordert.«
»Ah, das muß ich einer Dame wiedererzählen, bei der das großen Anklang finden wird.«
»Die Kirche von Balbec ist sehr schön, nicht wahr?« fragte ich und überwand damit meine Traurigkeit über die Kunde, daß einer der Anziehungspunkte von Balbec in seinen allerliebsten Villen bestehe.
»Nun, übel ist sie nicht, aber schließlich kann sie den Vergleich mit jenen wahrhaften Kleinodien des Meißels nicht vertragen, wie es die Kathedralen von Reims und Chartres sind und die Sainte-Chapelle von Paris, für meinen Geschmack die Perle von allen.«
»Aber die Kirche von Balbec ist doch zum Teil wohl romanisch?«
»In der Tat, sie ist im romanischen Stil erbaut, der ja schon an und für sich äußerst kalt wirkt und noch nichts ahnen läßt von der Eleganz und Phantasie der gotischen Architekten, die den Stein meistern wie Spitze. Die Kirche von Balbec ist wohl einen Besuch wert, wenn man in die Gegend kommt, sie ist recht interessant; und wenn Sie an einem Regentage nichts anzufangen wissen, können Sie dort eintreten, sie werden das Grab Tourvilles sehen.«
»Waren Sie gestern auf dem Bankett des Auswärtigen Amtes? Ich habe nicht hingehen können«, sagte mein Vater.
»Nein,« antwortete Herr von Norpois mit einem Lächeln, »ich gestehe, daß ich es für eine recht andersartige Gesellschaft habe fallen lassen. Ich speiste bei einer Frau, von der Sie vielleicht gehört haben, bei der schönen Frau Swann.«
Meine Mutter unterdrückte einen Schauer: rascher und feiner reagierend als mein Vater, erschrak sie in seinem Interesse über alles, was ihn erst einen Augenblick später verdrießen sollte. Alles Unangenehme, das ihm zustieß, wurde erst von ihrem Gefühl abgefangen, wie etwa die für Frankreich ungünstigen Nachrichten im Ausland früher als bei uns bekannt sind. Aber sie war doch neugierig zu erfahren, was für eine Sorte Leute die Swann empfangen mochten, und erkundigte sich bei Herrn von Norpois, wen er dort getroffen habe.
»Mein Gott ... es ist ein Haus, das, wie mir scheint, vorwiegend ... von Herren aufgesucht wird. Einige verheiratete Männer waren zugegen, aber ihre Frauen waren an dem Abend gerade leidend und nicht erschienen«, antwortete der Botschafter raffiniert treuherzig, und warf Blicke um sich, die mit sanfter Zurückhaltung die Bosheit, die sie scheinbar mildern wollten, geschickt übertrieben.
»Um ganz gerecht zu sein«, fügte er hinzu, »muß ich sagen, daß allerdings auch Frauen hinkommen, die aber ... mehr der, ... wie soll ich mich ausdrücken, der republikanischen Gesellschaft angehören als dem Kreise Swanns (er sprach den Namen Svann aus). Wer weiß? Vielleicht wird es eines Tages ein politischer oder literarischer Salon sein. Sie scheinen übrigens mit ihrem Salon so, wie er ist, zufrieden zu sein. Und ich finde, Swann zeigt das ein bißchen zu sehr. Er nannte die Leute, bei denen er und seine Frau für die nächste Woche eingeladen seien und auf deren Intimität er nicht gerade stolz zu sein brauchte; es war so wenig zurückhaltend, so ohne Geschmack und fast ohne Takt: erstaunlich bei einem so feinen Menschen! Er wiederholte: »Wir haben keinen freien Abend«, als ob das ein Ruhm sei, wie ein richtiger Parvenü, der er denn doch nicht ist. Swann hatte viele Freunde und sogar Freundinnen, und ohne zu weit zu gehen oder indiskret werden zu wollen, glaube ich sagen zu können, daß, wenn nicht alle, wenn nicht gerade die meisten, doch wenigstens eine und zwar eine sehr hochstehende Dame sich vielleicht nicht unbedingt gegen den Gedanken gesträubt hätte, zu Frau Swann in Beziehung zu treten, in welchem Falle wahrscheinlich mehr als ein Hammel des Panurg hinterdrein gelaufen wäre. Aber offenbar ist von Seiten Swanns in diesem Sinne kein Schritt ins Auge gefaßt worden. Wie? Jetzt noch Pudding à la Nesselrode! Ich werde ja eine richtige Karlsbader Kur nötig haben, um mich von einer so lukullischen Schlemmerei zu erholen. Vielleicht hat Swann gefühlt, daß zuviel Widerstand zu überwinden gewesen wäre. Seine Heirat hat sicherlich nicht gefallen. Man hat von dem Vermögen der Frau gesprochen, eine dumme Lüge! Aber schließlich hat das Ganze keinen angenehmen Eindruck hinterlassen. Dann hat Swann auch noch eine ungewöhnlich reiche Tante in glänzender gesellschaftlicher Stellung, Frau eines Mannes, der, vom finanziellen Standpunkt betrachtet, eine Großmacht ist. Die hat sich nicht nur geweigert, Frau Swann zu empfangen, sie hat auch noch einen regelrechten Feldzug unternommen, damit ihre Freunde und Bekannten dasselbe täten. Damit will ich nicht behaupten, daß irgendein Pariser der guten Gesellschaft sich Frau Swann gegenüber respektlos aufgeführt habe ... nein! hundertmal nein! ist ja der Gatte Manns genug, den Fehdehandschuh aufzunehmen. Erstaunlich bleibt es jedenfalls mitanzusehen, wie Swann, der so viele Leute aus den exklusivsten Kreisen kennt, sich um eine Gesellschaft bemüht, von der man zum mindesten sagen muß, daß sie sehr gemischt ist. Ich habe ihn früher gekannt und muß gestehen, daß ich ebenso überrascht wie belustigt war, als dieser guterzogene Mann, der in den gesiebtesten Cliquen beliebt war, vor meinen Augen einem Kabinettsvorstand im Postministerium überschwenglich für seinen Besuch dankte und ihn fragte, ob Frau Swann sich »gestatten« dürfe, seine Frau zu besuchen. Er kann sich in dieser neuen Gesellschaft doch nicht zu Hause fühlen. Und doch glaube ich nicht, daß Swann unglücklich ist. Wohl hat es in den Jahren, die der Heirat vorangingen, ziemlich garstige Erpressungsmanöver von seiten der Frau gegeben; jedesmal wenn Swann ihr etwas verweigerte, hat sie ihm seine Tochter fortgenommen. Und jedesmal hat der Arme, der ebenso naiv wie raffiniert ist, gemeint, die Entführung der Tochter träfe zufällig mit dem anderen zusammen, und die Wirklichkeit hat er nicht sehen wollen. Übrigens machte sie ihm so ununterbrochen Szenen, daß man meinte, von dem Tage ab, an dem sie ihr Ziel erreicht habe und geheiratet worden sei, werde sie nichts mehr zurückhalten und ihr gemeinsames Leben werde eine Hölle sein. Gerade das Gegenteil ist geschehen! Man amüsiert sich über die Art und Weise, wie Swann von seiner Frau spricht, man macht sich sogar weidlich darüber lustig. Man hat ja nicht verlangt, daß er urbi et orbi verkünde, er sei, wie er sich mehr oder weniger bewußt ist, das, wofür Molière so ein schönes Wort hat; aber dessenungeachtet findet man es übertrieben, wenn er sagt, seine Frau sei eine ausgezeichnete Gattin. Allein das ist gar nicht so unrichtig, wie man glaubt. Ihre Art, ihn zu behandeln, würde vielleicht manchem anderen Ehemann nicht behagen, aber unter uns, Swann, der diese Frau seit langem kannte und alles andere als ein Dummkopf ist, hat doch wohl gewußt, woran er sich zu halten habe, und es läßt sich nicht leugnen, sie scheint wirkliche Zuneigung zu ihm zu empfinden. Das soll nicht heißen, sie sei gar nicht flatterhaft, Swann selber ist ja auch kein Heiliger, wenn man den guten Zungen glauben darf, die, wie Sie denken können, kräftig im Gange sind. Aber sie ist ihm dankbar für alles, was er für sie getan hat, und im Gegensatz zu den allgemeinen Befürchtungen scheint sie jetzt von engelhafter Güte zu sein.«
Diese Veränderung war vielleicht nicht so ungewöhnlich, wie Herr von Norpois sie fand. Odette hatte nicht geglaubt, daß Swann sie schließlich heiraten werde; so oft sie ihm in deutlicher Absicht mitteilte, daß ein Mann der Gesellschaft seine Geliebte geheiratet habe, sah sie ihn eisiges Schweigen bewahren und auf ihre direkte Frage: »Du findest nicht, daß sich das schickt? Ist das, was er tut, nicht sehr schön für eine Frau, die ihm ihre Jugend geschenkt hat« – höchstens trocken erwidern: »Ich sage nichts dagegen. Jeder nach seiner Art.« Sie war sogar nahe daran, zu glauben, er werde sie ganz im Stich lassen, wie er es in Augenblicken des Zorns manchmal androhte. Hatte sie