Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust

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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust

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dieser pessimistischen Maxime hatte sie betroffen, sie hatte sie sich zu eigen gemacht, wiederholte sie alle Augenblicke und sah dabei so mutlos aus, als wollte sie sagen: »Es ist gar nicht ausgeschlossen, ich habe eben kein Glück.« Und langsam wich alle Kraft aus dem optimistischen Grundsatz, der bisher Odette durch das Leben geleitet hatte: »Man kann mit Männern, die uns lieben, alles anstellen, sie sind so idiotisch.« (Dieser Grundsatz kam in ihrem Gesicht mit demselben Augenzwinkern zum Ausdruck, das etwa Wendungen hätte begleiten können wie: »Keine Angst, es geht nichts entzwei.«) Damals litt Odette bei dem Gedanken, was wohl von Swanns Benehmen die oder jene ihrer Freundinnen halten mochte, die von einem Mann geheiratet wurde, mit dem sie nicht so lange zusammenlebte wie sie mit Swann, und von dem sie kein Kind hatte, die nun verhältnismäßig geachtet dastand und zu den Bällen im Elysee geladen wurde. Ein tieferdringender Geist als Herr von Norpois hätte durchaus die Diagnose stellen können, es sei dies Gefühl der Demütigung und Schande, was Odette verbitterte; der diabolische Charakter, den sie zur Schau trug, sei nicht ihr Wesen, nicht ein Übel, für das es keine Heilung gibt; er hätte leicht vorhersehen können, was nun wirklich geschah, daß nämlich durch das neue Regime, das Regime der Ehe, mit fast magischer Geschwindigkeit die peinlichen Vorkommnisse aufhörten, die sonst an der Tagesordnung, aber durchaus nicht mit Odettes Wesen organisch verwachsen waren. Fast alle wunderten sich über die Heirat, und gerade das ist verwunderlich. Zwar begreifen nur wenige den rein subjektiven Charakter des Phänomens Liebe und die Art, wie dabei eine ergänzende Person geschaffen wird, die von der offiziellen Trägerin ihres Namens verschieden ist, eine Person, zu deren Schöpfung wir die meisten Elemente dem eignen Wesen entnehmen. Auch finden es nur wenig Leute natürlich, daß ein Wesen (das eben nicht mehr identisch ist mit dem, welches sie sehen) für uns mit der Zeit so ungeheure Proportionen annehmen kann. Gleichwohl hätte man sich in Odettes Fall über eines Rechenschaft geben können: wenn sie auch sicherlich Swanns Geist nie in seinem ganzen Umfange begriffen hatte, so kannte sie wenigstens die Titel und alle Einzelheiten seiner Arbeiten, und der Name Ver Meer war ihr ebenso vertraut wie der ihres Schneiders; an Swann kannte sie sehr genau die Charakterzüge, welche die anderen Menschen an einem nicht kennen oder komisch finden, und von denen nur eine Schwester oder eine Geliebte ein ähnliches Bild liebevoll in sich trägt; hängen wir doch selbst so sehr an solchen Zügen unseres eigenen Wesens, auch wenn es die sind, die wir am ehesten ändern möchten; und gerade weil eine Frau sie mit gewohnter Nachsicht und mit freundschaftlichem Spott behandelt, ähnlich wie wir selbst und unsere Eltern, haben alte Liebschaften etwas von der Süße und Stärke der Familienbande. Was uns mit einem Wesen verbindet, wird geheiligt, wenn es sich bei der Beurteilung unserer Mängel auf denselben Standpunkt wie wir stellt. Von den besonderen Zügen waren bei Swann manche ebensosehr seinem Geist wie seinem Charakter eigen, da aber auch die geistigen im Charakter ihre Wurzel hatten, konnte Odette sie leicht erkennen. Wenn Swann sich mit literarischen Arbeiten beschäftigte und Studien veröffentlichte, beklagte sie sich darüber, daß diese Züge seines Wesens nicht so deutlich herauskamen wie in seinen Briefen oder seiner Unterhaltung, die ganz von ihnen erfüllt waren. Sie riet ihm, auch in seine Arbeiten diesen Teil seines Wesens eintreten zu lassen. Das hätte sie gern gesehen, weil es ihre Lieblingszüge waren; da aber diese Vorliebe darauf beruhte, daß sie so besonders eng zu seinem Wesen gehörten, hatte sie vielleicht gar nicht unrecht, zu wünschen, sie sollten in seinen Schriften mehr hervortreten. Vielleicht meinte sie auch, lebendigere Werke würden ihm endlich zum Erfolge und dadurch ihr zu dem verhelfen, was sie bei den Verdurin über alles zu schätzen gelernt hatte: zu einem Salon.

      Unter den Leuten, die diese Art Heirat lächerlich fanden, Leuten, welche im eignen Falle fragten: »Was wird Herr von Guermantes denken, was wird Bréauté sagen, wenn ich Fräulein von Montmorency heirate?«, unter den Leuten, die solchem sozialen Ideal anhingen, hätte sich zwanzig Jahre früher Swann selbst befunden, der es zu jener Zeit sich Mühe kosten ließ, in den Jockey-Klub aufgenommen zu werden, und damit rechnete, eine glänzende Partie zu machen, die durch eine Festigung seiner Stellung schließlich eine der bekanntesten Pariser Persönlichkeiten aus ihm gemacht hätte. Allein den Vorstellungen, die von einer solchen Heirat dem Betreffenden vorschweben, muß wie allen Wunschbildern, damit sie sich nicht auflösen und verschwimmen, von außen nachgeholfen werden. Mag es dein glühendster Traum sein, den Menschen, der dich beleidigt hat, zu demütigen; wenn du nie von ihm sprechen hörst, weil du längst in einem anderen Lande lebst, wird dein Feind dir schließlich ganz unwichtig werden. Wenn man im Verlauf von zwanzig Jahren alle Menschen aus dem Auge verloren hat, derentwegen man gern in den Jockey-Klub oder ins Institut de France gekommen wäre, hat die Aussicht, Mitglied des einen oder des anderen zu werden, nichts Verlockendes mehr. Nicht weniger als Zurückgezogenheit, Krankheit oder religiöse Bekehrung löst eine dauernde Liebschaft die alten Wunschbilder durch neue ab. Von Seiten Swanns war die Ehe mit Odette kein Verzicht auf gesellschaftliche Ambitionen, denn von denen hatte Odette schon längst im geistigen Sinne des Wortes ihn losgemacht. Und wäre das nicht geschehen, so wäre sein Verdienst nur um so größer gewesen. Im allgemeinen sind die entehrenden Heiraten, da mit ihnen eine mehr oder weniger schmeichelhafte Weltstellung rein privaten Annehmlichkeiten geopfert wird, die achtbarsten von allen. (Geldheiraten darf man dabei nicht zu den entehrenden rechnen; es gibt kein Beispiel eines Ehebündnisses, bei dem die Frau oder auch der Mann, die sich verkauft haben, nicht schließlich doch in der Gesellschaft empfangen wurden, sei es auch nur aus Tradition auf die Autorität früherer Fälle hin und um nicht zweierlei Maß und Gewicht anzuwenden.) Vielleicht wäre es Swann andererseits als Künstler oder gar aus einer Art Verderbtheit immerhin eine gewisse Wollust gewesen in einer der Kreuzungen, wie sie die Mendelisten ausführen und die Mythologie sie darstellt, mit einem Wesen anderer Rasse sich zu paaren, mit einer Erzherzogin oder einer Kokotte, und eine königliche Allianz oder eine Mesallianz zu schließen. Nur an ein Wesen auf der Welt dachte er mit Unruhe, so oft er die Möglichkeit einer Ehe mit Odette erwog: das war– ohne jeden Snobismus von seiner Seite – die Herzogin von Guermantes. Odette kümmerte sich wenig um diese, sie dachte nur an Leute, die gesellschaftlich unmittelbar über ihr standen, und nicht an die in unbestimmten höheren Regionen. Wenn aber Swann in träumerischen Stunden Odette seine Frau geworden sah, stellte er sich regelmäßig den Augenblick vor, in dem er sie und vor allem seine Tochter der Fürstin des Laumes, die bald durch den Tod ihres Schwiegervaters Herzogin von Guermantes werden sollte, zuführen würde. Sie anderswo vorzustellen, hatte er kein Verlangen, aber er wurde ganz gerührt, wenn er sich ausdachte und in Worten aussprach, was die Herzogin über ihn zu Odette und was Odette zu Frau von Guermantes sagen und wie diese Gilberte verwöhnen und ihn stolz auf seine Tochter machen würde. Er spielte sich selbst die Begrüßungsszene mit einer Genauigkeit in den fiktiven Einzelheiten vor, wie sie Leute haben, die nachgrübeln, auf welche Art sie ein erst noch zu gewinnendes Los, dessen Zahl sie willkürlich festsetzen, ausnützen würden. Soweit ein Wunschbild, das einen unserer Entschlüsse begleitet, als dessen Motiv anzusehen ist, kann man sagen, daß Swann Odette heiratete, um sie und Gilberte, ohne daß sonst jemand zugegen war, ja nötigenfalls, ohne daß es jemals bekannt würde, der Herzogin von Guermantes vorzustellen. Und diesem einzigen gesellschaftlichen Ehrgeiz, den Swann für Frau und Tochter hegte, sollte, wie man sehen wird, die Erfüllung versagt bleiben, und zwar durch ein so absolutes Veto, daß Swann starb, ohne vermuten zu können, die Herzogin werde die Seinen noch einmal kennen lernen. Nach seinem Tode jedoch befreundete sich, wie man ebenfalls sehen wird, die Herzogin mit Odette und Gilberte. Vielleicht wäre es weise von ihm gewesen – wenn anders er schon eine Kleinigkeit so wichtig nehmen konnte – sich in dieser Hinsicht keine düstern Vorstellungen von der Zukunft zu machen, sondern es ihr zu überlassen, die ersehnte Zusammenkunft herbeizuführen, wenn er, sich ihrer zu erfreuen, nicht mehr dasein werde. Die Kausalität, die schließlich fast alle möglichen Folgen heraufführt, auch die, von denen man es am wenigsten glaubte, arbeitet bisweilen langsam und wird durch unser Verlangen, das sie beschleunigen will und dadurch hemmt, ja schon durch unser bloßes Dasein noch mehr verlangsamt; sie kommt zum Ziel, wenn wir aufgehört haben, zu verlangen oder gar zu leben. Wußte Swann das nicht aus eigener Erfahrung? War seine Ehe nicht schon bei Lebzeiten eine Vorform dessen, was erst nach seinem Tode stattfinden sollte, ein posthumes Glück? Die Ehe mit dieser Odette, die er leidenschaftlich, wenn auch nicht auf den ersten Blick, geliebt hatte und dann heiratete, als er sie nicht mehr liebte, als das Wesen in ihm, das so verzweifelt und so sehnsüchtig das ganze Leben mit Odette zu leben begehrte, als dieses Wesen tot war?

      Ich

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